Anna Maria Theresia SCHWINGE

Anna Maria Theresia SCHWINGE

Eigenschaften

Art Wert Datum Ort Quellenangaben
Name Anna Maria Theresia SCHWINGE
Beruf Hausfrau

Ereignisse

Art Datum Ort Quellenangaben
Geburt 26. August 1894 Drankhausen nach diesem Ort suchen
Tod 16. September 1971 Witten nach diesem Ort suchen
Heirat 3. Juni 1919 Borgholz nach diesem Ort suchen

Ehepartner und Kinder

Heirat Ehepartner Kinder
3. Juni 1919
Borgholz
Heinrich Paul LADLEIF

Notizen zu dieser Person

Anna Ladleif, geb. Schwinge
Geb. 26.8.1894, gest. 16.9.1971

Anna wurde als jüngstes von 10 Kindern der Eheleute Wilhelm und Theresia Schwinge in Drankhausen, Kreis Warburg, geboren. Da Drankhausen keine eigene Schule und Kirche besaß, mußte sie als Kind immer auf einem schlechten Feldweg nach Natzungen zur Schule gehen, das etwa 2 km entfernt war. Im Winter kamen die Kinder aus Drankhausen dann oft völlig durchnässt und durchgefroren in der Schule an. Da häufig auch nachmittags in der zweiklassigen Volksschule unterrichtet wurde, konnten die Drankhäuser Kinder bei sehr schlechter Witterung mittags in der Schule bleiben. Anna war eine fleißige und wissbegierige Schülerin. Nach dem Schulunterricht musste sie im Sommer oft die Kühe am Wegrand hüten. Da nahm sie ihr Schulbuch zum Lernen immer mit. Im Alter kannte sie noch viele schöne Gedichte, die sie in der Schulzeit gelernt hatte.
Nach 7 Schuljahren wurde sie am 31.3.1908 aus der Volksschule entlassen. Zunächst lernte sie bei der Dorfschneiderin etwas Nähen. Danach war sie bei einer jüdischen Familie im benachbarten Peckelsheim als Hausmädchen in Stellung. Als während der Nazizeit die Juden verfolgt wurden, erzählte sie oft, sie könne von den Juden nichts Schlechtes sagen. Sie wäre immer ordentlich und gut behandelt worden.
Zu Drankhausen gehörte ein großes Waldgebiet. Durch Vermittlung des dortigen Försters kam Anna zur Oberförsterei nach Haus Merfeld bei Dülmen im Münsterland. In Haus Merfeld gab es neben meiner Mutter noch mehrere andere Bedienstete: eine Köchin, einen Kutscher und andere Hilfskräfte. Mit der Köchin hatte sie ein besonders herzliches Verhältnis. Bis zu ihrem Tod standen sie in Briefwechsel. Auf Haus Merfeld lernte Anna die „feine Küche“ kennen. Sie erzählte später oft vom „herrschaftlichen“ Leben dort.
1919 lernte Anna bei ihrer Heimfahrt nach Drankhausen im Zug einen jungen Mann aus dem Nachbardorf Frohnhausen kennen: Heinrich Ladleif, Sohn des dortigen Bäckers. Die jungen Leute fanden Gefallen aneinander und verabredeten sich zu späteren Treffen. Bald wurde aus Gefallen Liebe, und Heinrich hielt um ihre Hand an. Heinrich erzählte, dass er in Witten bei der Eisenbahn eine Arbeit gefunden hätte und gern einen eigenen Hausstand mit ihr gründen wollte. Anna erwog im Hinterkopf, dass eine Stellung bei der Eisenbahn nicht schlecht sei und Heinrich sicher später Beamter mit Pensionsberechtigung würde. So wartete man nicht lange, und am 3. Juni 1919 fand in Drankhausen die Hochzeit statt. Annas Dienstherr, Oberförster Hey, schrieb in seinem Glückwunschschreiben unter anderem: “Wir wünschen Ihnen von Herzen alles Glück und allen Segen in Ihrer Ehe. Die Vorbedingungen dazu sind ja vorhanden. Sie sind gesund und heiter und haben in den langen Jahren Ihrer Dienstzeit viel gelernt. Das kommt Ihnen jetzt zugute. Nutzen Sie Ihre wirtschaftlichen Kenntnisse recht gut aus und wenden Sie sie an richtiger Stelle und zu rechter Zeit an; wenn dann Ihr Mann einigermaßen das seine dazu tut, dann wird das Glück dauernd bei Ihnen wohnen. ...“ Als Hochzeitsgeschenk schickte er eine alte Wanduhr, die Anna später ihrem Sohn Kurt schenkte und heute im Besitz von Kurts Stiefsohn Friedel Schönbeck ist.
Als “Kindesteil“ erhielt Anna vom Elternhaus zur Hochzeit ein Schlafzimmer, vom Schreiner in Borgholz angefertigt in „Eiche geritzt“, das war Fichtenholz in Eichenmaserung gestrichen.
Das junge Paar fand in Witten in der Kirchstraße eine Wohnung. Dort wurde am 8.1.1920 Sohn Kurt geboren. Es war wohl eine sehr schwere Geburt bei Steißlage des Kindes. Als sich 1923 das zweite Kind ankündigte, bemühte Heinrich sich um eine größere Wohnung beim Spar- und Bauverein und bekam eine 3-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß vom Haus Crengeldanzstraße 70. Das Haus war ein Eckhaus (zum Tannenberg) mit 12 Wohnungen in vier Etagen. Die Parterrewohnung besaß keinen Korridor und war etwas kleiner als die übrigen Wohnungen. Als im 3. Obergeschoß eine etwas größere Wohnung mit Korridor frei wurde, zog man dorthin.
Am 18.12.1923 wurde Tochter Anneliese geboren und 5 Jahre später Tochter Thea am 22.10.1928. Damals waren Hausgeburten üblich. Annas Nichte Mia (geb. 1907) aus Drankhausen kam dann immer zur Haushaltführung nach Witten.
Das Hausfrauenleben war damals noch wenig technisiert. Im Keller befand sich eine gemeinsame Waschküche für alle 12 Mietparteien. In jeder Woche konnten jeweils drei Mieter die Waschküche zwei Tage lang benutzen, so dass jeder Mieter alle vier Wochen dort waschen konnte. Ein großer Waschkessel mit Kohlefeuerung stand für alle gemeinsam zur Verfügung, ebenso zwei große Spülbecken. Eine große Erleichterung war bald eine eigene mechanische Waschmaschine mit Wassermotor und dazu eine mit der Hand zu drehende Wringmaschine, durch welche die nasse Wäsche gedreht und so ausgepresst wurde. Im Sommer konnte die weiße Wäsche auf der zum Hause gehörenden „Bleiche“ gebleicht werden. Dazu wurde die nasse Wäsche auf dem Rasen ausgebreitet und ab und zu mit der Gießkanne begossen. Danach musste die Wäsche wieder gespült und ausgewrungen werden. Die Wäsche wurde anschließend auf dem „Trockenboden“ zum Trocknen aufgehängt. Der schwere Waschkorb musste also aus dem Keller über vier Stockwerke auf den Boden getragen werden: 14 Kellerstufen, 66 Treppenstufen und 12 Holzstufen zum Boden hinauf.
In jeder Wohnung befand sich nur eine einzige Wasserstelle, und zwar im Korridor. Gespült wurde in einer Spülschüssel auf dem Küchentisch und so auch die kleine Handwäsche erledigt.
Die Toiletten befanden sich außerhalb der Wohnung eine Treppe tiefer, so dass ein „Nachttopf“ nötig war.
Oberhalb des 3. Stockwerks befand sich ein Badezimmer mit Badewanne und „Badeofen“, der mit Kohlen oder Holz das benötigte Badewasser in etwa einer halben Stunde erhitzte. Samstags wurde familienweise gebadet. Bevor der Letzte einer Familie das Bad benutzte, wurde die folgende Familie um Kohlen gebeten, um das nächste Badewasser zu erwärmen.
Da Samstags nicht alle 12 Familien das Badezimmer benutzen konnten, hatten wir eine eigene große Zinkbadewanne, die im Korridor aufgestellt wurde. Das heiße Wasser wurde auf dem Küchenherd in einem großen „Einkochkessel“ bereitet. Das Badewasser wurde dann nacheinander von mehreren Personen benutzt.
Die Wohnung wurde mit Kohleöfen beheizt. Jede Familie hatte im „Kohlenkeller“ eine große abschließbare Kohlenkiste, aus der die Kohlen nach Bedarf geholt wurden. Meistens brannte nur in der Küche der Kohlenherd mit einem langen Ofenrohr. Auf dem Herd wurde gekocht, warmes Wasser bereitet, die Speisen warm gehalten und auch das Bügeleisen erhitzt. Wenn wir Kinder im Winter richtig durchgefroren waren, setzten wir uns gern vor die geöffnete Backofentür, aus der eine wohlige Wärme kam. Im Winter legten wir abends in den Backofen auch die „Wärmekrüge“, das waren mit Sand gefüllte Tonkrüge. Wenn sie genügend heiß waren, wurden sie mit einem Tuch umwickelt und in das kalte Bett gelegt. Das Schlafzimmer war im Winter oft eiskalt mit dicken Eisblumen an den Fenstern. Im Wohnzimmer wurde der schöne Kachelofen nur zu hohen Festtagen angezündet.
Das Mietshaus erhielt erst in den 30er Jahren elektrischen Stromanschluß. Vorher hatte man Gaslicht und Petroleumlampen.
Das Hausfrauenleben war also recht mühsam. Auch ein Garten an der Bahnlinie von Witten nach Dortmund bereitete viel Arbeit. Im Sommer wurden Stachelbeeren eingekocht und aus Johannisbeeren Gelee gekocht. Im Herbst holte Vater einen großen „Schliesskorb“ mit Pflaumen aus Frohnhausen und mehrere Kisten mit Äpfeln. Dann wurde fleißig eingekocht und Marmelade bereitet. Die guten Äpfel wurden im Keller auf „Stellagen“ gelagert und regelmäßig kontrolliert. Im Herbst wurde auch ein Sack Weißkohl zu Sauerkraut verarbeitet.
Da der Arbeitslohn recht niedrig und das Leben teuer war, musste an allen Ecken gespart werden. Vater erstand eine gebrauchte Nähmaschine, die Anna nun fleißig benutzte für Kinderkleidung und vielerlei Flickarbeiten.
1932 hatte Anna starke rheumatische Beschwerden und eine Erholung dringend nötig. Sie bekam von der Reichsbahn eine Kur bewilligt und konnte sich drei Wochen in Bad Driburg erholen. Cousine Mia aus Drankhausen versorgte während dieser Zeit in Witten den Haushalt.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse verbesserten sich langsam. 1937 kaufte man das erste Radio „Olympia 12“ zum Preise von RM 63. und 1938 ein neues Eichen-Schlafzimmer zum Preise von RM 740. Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde dieses neue Schlafzimmer zum Kornhaus Borgholz geschickt, um es vor möglichen Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen.
1937 verkleinerte sich die Familie: Sohn Kurt kam nach Beendigung seiner Schlosserlehre beim Reichsbahnausbesserungswerk in Witten zum damaligen Reichsarbeitsdienst und anschließend zur Wehrmacht, wo er bis zum Ende des 2. Weltkrieges 1945 blieb.
Nach Ausbruch des Krieges 1939 wurde Heinrich im Sommer 1940 als Felddiensteisenbahner nach Frankreich abkommandiert. Anna musste nun vieles selbst erledigen, was sonst ihr Mann gemacht hatte. Sie bearbeitete jetzt allein den Garten. Sie war darin recht erfolgreich und pflanzte sehr viele Stachelbeer- und Johannisbeersträucher an. Sie holte sich bei den Gartennachbarn auch manchen Rat. Heinrich schickte fleißig Päckchen aus Frankreich, vor allen Dingen gute Butter und andere Lebensmittel, die hier schon äußerst knapp waren. Er besorgte ihr auch zur Arbeitserleichterung einen Staubsauger, den damals nur wenige Leute hatten. Die Teppiche wurden meistens freitags draußen auf dem Hof auf der Teppichstange oder im Winter auf dem Schnee geklopft.
Thea weilte 1942 in der Kinderlandverschickung und seit August 1943 in der Lehrerinnenbildungsanstalt in Holzwickede.
Anneliese gefiel ihre Büroarbeit bei der Ruhrstahl in Witten-Annen nicht mehr und ließ sich ab 1944 in Höxter zur Schulhelferin ausbilden. Danach war sie in der „Ostmark“ in einem KLV-Lager für Jungen als Schulhelferin tätig.
So war Anna zeitweise ganz allein in der Wohnung in Witten. Die einzelnen Familienmitglieder kamen immer nur besuchsweise für kurze Zeit nach Hause.
Am 3. Juni 1944 war Silberhochzeitstag. Da Heinrich völlig überraschend von Frankreich nach Witten kommen konnte, wurde es ein schönes Fest. Am 5. Juni begann die Invasion in Frankreich und Heinrich musste sofort zurück zu seiner Einheit. Es war ein letzter Abschied für das Silberpaar, denn nur 14 Tage später, am 19. Juni 1944, verunglückte Heinrich auf seiner Lok tödlich. Der zuständige Ortsgruppenleiter der NSDAP, Herr Patermann, überbrachte die traurige Nachricht Ende Juni. Anna konnte es nicht fassen, denn sie hatte am gleichen Tag noch einen Brief von Heinrich erhalten. Nun war auch sie Kriegerwitwe, wie so viele andere Frauen. Fast alle Frauen trugen Schwarz, da doch die meisten irgendeinen Angehörigen im Krieg verloren hatten.
Da die Ernährungslage in Witten sehr schlecht war und es außerdem fast jede Nacht Fliegeralarm gab, verließ Anna im Herbst 1944 ihre Wohnung in Witten und fuhr nach Drankhausen zu ihren Verwandten. Sie machte sich dort im Haushalt immer nützlich, vor allem mit Flicken und Nähen.
In den Weihnachtsferien 1944 fuhr Thea zunächst nach Witten. Sie fand die Wohnung nach dem ersten schweren Bombenangriff auf Witten am 16.12.1944 ziemlich trostlos vor. Fast alle Fenster waren zersplittert und teilweise der Putz von der Decke gefallen. Da das Dach auch teilweise abgedeckt war, regnete es stellenweise durch. Thea behob provisorisch die größten Schäden und fuhr dann nach Drankhausen bzw. Borgholz. Als Anna von den Schäden in Ihrer Wohnung hörte, wollte sie nicht länger bei den Verwandten bleiben und fuhr gleich nach Weihnachten zusammen mit Anneliese und Thea zurück nach Witten. Anneliese blieb nun in Witten, da eine Rückreise in das KLV-Lager in der Ostmark nicht mehr möglich war. Thea fuhr wieder zurück nach Holzwickede zur LBA.
Am 19. März 1945 war der zweite schwere Bombenangriff auf Witten. Das Haus Crengeldanzstr. 70 blieb von Bomben verschont. Durch den großen Luftdruck waren die Fenster aber wieder zerstört und das Dach stellenweise abgedeckt. Anneliese wollte keinen Tag länger in dieser Horrorstadt bleiben und flüchtete zu den Verwandten nach Borgholz.
Bei diesem letzten Luftangriff hatten wiederum viele Familien Ihr Hab und Gut verloren und waren praktisch obdachlos. Anna stellte einen Raum ihrer Dreizimmerwohnung einer ausgebombten Familie zur Verfügung, damit sie doch ein Dach über dem Kopf hatten.
Am 23.3.1945 brannte die LBA bei einem Bombenangriff auf Holzwickede aus, und so kehrte Thea nach Witten zurück. Täglich gab es Fliegeralarm, und die englischen Truppen rückten immer näher.
Anfang April saßen wir nachts wieder unten im Luftschutzkeller, als ein großer Knall das Haus erschütterte. Nach der Entwarnung trauten wir uns aus dem Keller nach oben. Wir sahen, dass im 2. Obergeschoß die beiden gegenüberliegenden Korridortüren zerstört waren. Im 3. Obergeschoß war nichts Auffälliges zu sehen. Als wir aber unsere Korridortür öffnen wollten, gelang das nur mit großem Kraftaufwand. Hinter der Tür lag ein Berg Schutt. Eine Granate war durch das Dach von Haus Tannenberg 2 durch die Außenwand unseres Schlafzimmers und dann weiter durch den Fußboden des Schlafzimmers durch den Korridor der darunter liegenden Wohnung in den Korridor der gegenüber liegenden Wohnung gekracht und lag dort noch vor der Außenwand. Wie diese Granate dort entfernt wurde, ist mir entfallen, aber wahrscheinlich von deutschen Soldaten, die Witten verteidigen sollten. Eines Tages fuhr ein deutscher Panzer in die Durchfahrt von Haus Crengeldanzstr. 68. Da bestürmten alle Frauen aus der Nachbarschaft die Soldaten, sich doch von dort zu entfernen, um die wenigen unzerstörten Häuser nicht unnötig zu gefährden. Der Panzer verschwand dann auch.
Nun lag in unserer Wohnung eine Menge Schutt und zerstörtes Mobiliar. Anna und Thea schafften den Schutt in Eimern fort. Mit Hilfe einiger Männer konnte auch der schöne Kachelofen zum Schutt gebracht werden. Das Loch in der Wand zum Nachbarhaus wurde notdürftig mit Brettern zugemacht und ebenso das Loch im Fußboden zugedeckt. In der darunter liegenden Wohnung wohnte eine Frau mit einem Kleinkind. Der Kochdunst und der Schwaden der Kinderwäsche zogen durch die Bretter in unser Schlafzimmer.
Am 11.4.1945 rückten die Amerikaner in Witten ein. Am Tag vorher hatte der „Volkssturm“ an der Unterführung beim Straßenbahndepot eine Panzersperre errichtet. In unserer unmittelbaren Nähe fanden aber keine Kampfhandlungen statt. Wir beobachteten, wie die amerikanischen Soldaten sichernd und duckend heranrückten. Schnell wurden überall an den Fahnenstangen statt der gewohnten Hakenkreuzfahnen weiße Betttücher aufgehängt zum Zeichen der Kapitulation. Dann erließen die Amerikaner neue Verordnungen, Ausgehverbote und die strikte Anordnung, alle versteckten Waffen abzuliefern. In unserer Chaiselongue lagerte ein schönes Jagdgewehr von Kurt. Anna hatte Angst und schickte Thea mit dem Gewehr zur Ablieferungsstelle im Tannenberg. Ein amerikanischer Soldat nahm es lässig entgegen und zerbrach es sofort über seinem Knie. Kurt hat später den Verlust sehr bedauert und uns heftige Vorwürfe gemacht.
Nun begann die eigentliche Notzeit: Die Lebensmittelversorgung wurde immer schlechter. Vor den Bäckereien und Lebensmittelgeschäften bildeten sich lange Menschenschlangen. Oft war dann alles ausverkauft, wenn man endlich an der Reihe war. Anna hatte noch einige Vorräte von Drankhausen, die aber streng eingeteilt werden mussten..
Nach Beendigung des Krieges im Mai kehrten Anneliese und später auch Kurt wieder nach Witten zurück. Kurt bemühte sich sehr, die Schäden in der Wohnung zu beseitigen. Das Dach blieb noch längere Zeit undicht, so dass es immer wieder durchregnete und auch in der Wohnung Eimer zum Auffangen des Regenwassers aufgestellt werden mussten. Mit vier Personen in nur zwei Zimmern war es in der Wohnung recht eng, da das dritte Zimmer noch von der ausgebombten Familie Maybach bewohnt wurde. So gab es häufig Streit unter den Geschwistern: Anneliese hatte keine Arbeit, Thea wusste nicht, ob und wann sie wieder zur Schule gehen konnte, und Kurt fühlte sich als Pascha. Die Zukunft war sehr ungewiss. Im Herbst 1945 fuhr Thea nach Drankhausen, um dort im Haushalt zu helfen.
Weihnachten 1945 heiratete Kurt. Er bewohnte nun mit seiner Frau Hanni und deren dreijährigem Sohn Friedel das dritte Zimmer, das kurz vorher von der ausgebombten Familie geräumt wurde. Im Februar 1946 kehrte Thea von Drankhausen zurück und konnte nun die wieder eröffnete Oberschule besuchen.
Im Sommer 1946 stand ein abgezehrter fremder Soldat an der Wohnungstür und fragte nach Anneliese. Es war ihr Feldpost-Brieffreund Aloys. Er kam aus französischer Gefangenschaft. Da er in seine Heimat nach Ostpreußen nicht zurückkonnte, hatte er Witten als Heimatstadt angegeben. Anna nahm ihn auf und besorgte ihm nach kurzer Zeit in der Nachbarschaft im Tannenberg ein Zimmer zum Schlafen. Anna kochte für ihn und versorgte auch seine Wäsche. Anneliese und Aloys lernten sich näher kennen und lieben. Als Kurt 1947 eine eigene kleine Wohnung im Bahnhof Bommern bezog, fand am 18. Februar 1947 die Hochzeit von Anneliese und Aloys statt. Nun bewohnten sie das frei gewordene dritte Zimmer. Aloys fand nach einigen Monaten Arbeit in Bonn und auch eine kleine Wohnung. So zog das junge Paar nach Bonn. Wegen der großen Wohnungsnot war das dritte Zimmer beim Wohnungsamt als untervermietet gemeldet, und so wurde eine junge Frau als Untermieterin zugewiesen.
Anna erhielt nach dem Tod von Heinrich zunächst eine sehr kleine Pension, hinzu kam eine Unfallrente und die Waisenrente für Thea. 1949 erhielt sie einen fehlerhaften Rentenbescheid. Da war sie ganz außer sich und schrieb an die Reichsahndirektion Essen u.a.: “Ich bitte höflichst um Aufklärung, wie es möglich ist, dass meine Gesamtbezüge von monatlich DM 222,42 auf DM 123,16 herabgesetzt werden konnten...Das bisherige Witwengeld betrug monatlich DM 153,98, hinzu kamen DM 68,44 Waisengeld und DM 20.00 Kinderzuschlag. Da meine Tochter Thea noch die höhere Schule besucht und Ostern übers Jahr ihr Abitur macht, täte es mir leid, wenn sie vorzeitig die Schule verlassen müsste, ohne ihre Abschlußprüfung zu haben. Bei einem monatlichen Witwen- und Waisengeld von DM 123,16 bin ich nicht in der Lage, die Ausbildung meiner Tochter aufrecht zu halten. Bei den heutigen Preisen reicht das Geld knapp für das Allernotwendigste....“ Dieser Rentenbescheid war falsch und wurde korrigiert. Durch die späteren Rentenreformen erhöhten sich ihre Bezüge dann kontinuierlich.
Als Anna Witwe war, fand sie in Frau Biermann eine gute und treue Freundin. Frau Biermann war auch Beamtenwitwe. Sie wohnte in der Nähe im Tannenberg und hatte eine Tochter, die etwas älter als Anneliese war. Sie trafen sich nach Möglichkeit jeden Sonntag zum Kaffeetrinken, abwechselnd in der jeweiligen Wohnung. Bei gutem Wetter gingen sie anschließend zusammen spazieren. Gemeinsam besuchten sie auch die Veranstaltungen des katholischen Frauen- und Müttervereins. Einmal in der Woche waren sie im Wittener Hauptbahnhof bei der „Bahnhofsmission“ tätig. Als die Zeiten besser wurden, fuhren sie auch gemeinsam in Urlaub nach Bad Driburg oder Bad Westernkotten und einmal auch nach Bad Tölz.
1955 wollten Thea und Paul heiraten. Die Wohnungsnot war immer noch sehr groß. Da schlug Anna vor, das junge Paar könnte vorläufig bei ihr wohnen. Die Untermieterin erhielt eine Kündigung und zog dann auch bald aus. Nun wurde die gesamte Wohnung renoviert. Paul kam nach Feierabend und legte die elektrischen Leitungen unter Putz. Dann wurde die gesamte Wohnung tapeziert und die Fenster und Türen gestrichen. Neue Möbel wurden bestellt: Küche und Schlafzimmer. Anna kaufte für ihr Wohnzimmer ein passendes großes Bett zum Schlafen. So wohnte nun auch Annas drittes Kind verheiratet im 4. Stock von Crengeldanzstr. 70. Thea arbeitete vorerst noch auf dem Büro bei der BV-Aral AG in Bochum und Anna besorgte den Haushalt. Nach einem Jahr wurde im ersten Stock von Crengeldanz 70 eine Wohnung frei. Anna bewarb sich um diese Wohnung und bekam zwei Zimmer zugesprochen. Das dritte Zimmer wurde von der Genossenschaft an eine junge Frau vermietet.
Anna konnte ihre Wohnzimmermöbel mit dem Bett in der neuen Wohnung gut aufstellen und kaufte dazu einen passenden Kombischrank (Wohnzimmer-/Kleiderschrank). Auch ihre alten Küchenmöbel konnte sie wieder aus dem Keller holen. Herd und Ofen mußte sie allerdings neu kaufen.
1957 wurde Ursula geboren. Thea hatte ihre Berufstätigkeit aufgegeben und versorgte nun selbst den Haushalt. Vorher hatte Anna für die Familie gekocht, nun besorgte es Thea. Anna kam zum Mittagessen zu Thea nach oben. Nachmittags fuhr sie Ulla im Kinderwagen spazieren. Auch als Ulla größer wurde und 1960 Peter und 1963 Norbert geboren wurden, verwahrte sie nachmittags liebevoll ihre Enkelkinder. Als Familie Klaes ein Fernsehgerät gekauft hatte, kam sie abends oft nach oben, um interessante Sendungen zu sehen.
1965 konnte Theas Familie in eine moderne größere Wohnung in die Ziegelstraße umziehen. Anna war zunächst nicht davon begeistert, da sie dann allein war und wieder selbst kochen mußte. Sie gewöhnte sich aber bald an die neue Situation. Bei gutem Wetter kam sie oft zu Fuß zur Ziegelstraße. Thea ging auch regelmäßig zur Crengeldanzstraße zum Fensterputzen oder zum Treppenhausputzen. Die Kinder freuten sich dann abends auf die Nudeln in Tomatensoße, die bei der Oma viel besser schmeckten als bei Thea zu Hause. Paul besorgte für Anna die größeren Einkäufe mit dem Auto und holte ihr bei der Gelegenheit auch die Kohlen aus dem Keller.
Anna hatte ein schwaches Herz, litt häufig an Hautallergien und hatte oft große Atemschwierigkeiten. Sie hatte mit zunehmendem Alter schlimme Asthmaanfälle und bösen Husten. Die Ärztin hatte Lungenemphysem und Herzasthma diagnostiziert.
1968 bekam sie dicke geschwollene Beine bei einer Thrombose. Da wurde sie von Thea in der Ziegelstraße gepflegt. November 1970 mußte sie wegen akuter Atembeschwerden ins Krankenhaus. Zu Kurts Silberhochzeit war sie wieder zu Hause.
Im August 1971 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand wieder. Sie wurde ins Diakonissenkrankenhaus eingeliefert. Hier ging es ihr langsam wieder besser. Bei schönem Wetter konnte sie nachmittags mit Thea im Schwesternpark spazieren gehen. Zu ihrem 77. Geburtstag am 26. August holte Thea sie nachmittags zu sich nach Hause. Kurt und Hanni waren an der Ostsee in Urlaub. Nach 6-wöchigem Krankenhausaufenthalt verschlechterte sich unerwartet Annas Zustand. Sie bekam plötzlich eine Lungenentzündung und brach sich bei einem Sturz aus dem Bett einen Arm. Thea hatte beim Pfarramt einen Geistlichen für die Krankensalbung bestellt. Als der Geistliche, ein junger Vikar, kam, war Anna wegen des gebrochenen Arms im OP. Da ging der Geistliche unverrichteter Dinge wieder fort. Als Thea am Mittag des 16. September 1971 ins Krankenzimmer kam, war Anna schon gestorben und lag tot im Bett. Sie hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck und war nun von allen Schmerzen erlöst.
Kurt wurde in seinem Urlaubsort vom Tod seiner Mutter informiert und kam am nächsten Tag zurück nach Witten. Bei der Aufregung verlor er seinen Siegelring. Diesen Siegelring hatte er aus dem Trauring seines Vaters anfertigen lassen, den Anna nach der Umbettung von Heinrichs Leichnam auf einen Soldatenfriedhof von der Kriegsgräberfürsorge zugeschickt bekommen hatte.
Auch Anneliese wurde sofort benachrichtigt. Sie hatte in diesem Jahr 1971 am 18. März ihren Mann verloren und nun nach einem halben Jahr auch ihre Mutter. Ihre Tochter Renate war gerade auf einer Urlaubsreise in Australien.
Zur Beerdigung auf dem Kommunalfriedhof an der Pferdebachstraße kamen auch viele Nachbarn und von der Verwandtschaft Heinrich und Gertrud Schwinge von Drankhausen und Hermann und Mia Justus vom Kornhaus Borgholz.
Anna hatte immer sehr einfach und äußerst sparsam gelebt, wie sie es von früher gewohnt war. Als von ihren Ersparnissen die Beerdigungskosten abgezogen waren, bekam jedes ihrer drei Kinder noch DM 10.000 als Erbe ausgezahlt.

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Hochgeladen 2007-01-12 20:36:37.0
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