Johann BENDER

Johann BENDER

Eigenschaften

Art Wert Datum Ort Quellenangaben
Name Johann BENDER

Ereignisse

Art Datum Ort Quellenangaben
Geburt etwa 1715 Sohn des ESAJAS [jüdisch]. 17.4.1736 Laubeheim ref. Kirchenbuch./Laubenheim [Laubenheim a. der Nahe] nach diesem Ort suchen

Ehepartner und Kinder

Heirat Ehepartner Kinder

Bräder] Catharina Magaretha Bäder [BRÖDER

Notizen zu dieser Person

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April 2011 die Bühne der regionalenMedienlandschaft in der Kurpfalz betrat. Dass dieser “Auftritt” sich zu einem so großen und überwältigendenErfolg gestaltete - dass wir in dieser kurzen Zeit “Zugriffs-“ und“Klickzahlen” - so die Terminologie der modernen Internet-Medien -erreichten, wie wir sie uns in dieser Höhe nie zu träumen gewagthätten - das verdanken wir vor allem Ihnen, liebe Leserin, lieberLeser - Ihrem Interesse an der Arbeit eines kleinen, aberschlagkräftigen Redaktionsteams und Ihrer Bereitschaft, unser Angebot,mit dabei zu sein und “mitzumachen” - als Leser oder als Akteure -tatkräftig anzunehmen. In diesem einen Jahr hat der SPEYER-KURIER“laufen gelernt” und ist zueinem Organ geworden, das neben der Reflexion der Geschehnisse in derRegion vor allem auch durch eigene Themenfelder und durch seinen ganzspeziellen Blick auf Themen und durch seine Meinung dazu zu überzeugenversucht. So ist der SPEYER-KURIERdas wohl einzige Medium in der Kurpfalz mitregelmäßigen Seiten zum Judentum. Mit der Einweihung der neuen Moscheein der Brunckstraße im Frühsommer werden nun auch eigene Seiten zum“Islam” folgen. Sie sehen also, wir nehmen unsere Verpflichtung ernst,uns für die den religiösen Ansatz in unserer Gesellschaft prägendenGruppierungen einzusetzen - und das nicht nur gegenüber denchristlichen Konfessionen. Und so, wie wir in den letzten zwölf Monaten Schritt für Schritt immerweitere und neue Themenfelder für Sie, liebe Leserin, lieber Leser,erschlossen haben, so wollen wir Sie auch zukünftig mit immer wiederNeuem überraschen: Eigene Seiten zu den “Schwetzinger Festspielen”werden unseren kulturellen Anspruch vertiefen, unser in derVorbereitung befindliche “Gesundheits-Kurier” die Felder “RatgeberForschung und Wissenschaft” in unserem Blatt mit weiteren thematischenFacetten versehen. Und natürlich gilt auch künftig, was schon so viele Leser angenommenhaben: Den SPEYER-KURIERals ein Forum zum Mitmachen zu verstehen. Sowie sich Leserinnen und Leser in der ganzen Welt mit einzelnen oderregelmäßigen Beiträgen zu Wort melden, so wollen wir auch Sieeinladen, dabei zu sein, wenn es weiter aufwärts geht mit demSPEYER-KURIER. Bewahren Sie dazu Ihrem SPEYER-KURIERauch weiterhin Ihre kritischeSympathie und Ihre Verbundenheit. Für die Redaktion des SPEYER-KURIER Ihr Gerhard Cantzler Editorial vom 09. April 2011 Liebe Leserin, lieber Leser, hier stellt sich Ihnen der SPEYER-KURIER vor - ein neues, regionalausgerichtetes Medium - und bittet für die Zukunft um Ihre geschätzteAufmerksamkeit und Ihre wohlwollende Begleitung. Dass dies ausgerechnet heute geschieht, hat zumindest drei gute Gründe- und jeder dieser Gründe ist gewichtig genug, um ihm einenprominenten Platz in der Premierenausgabe des SPEYER-KURIER zusichern. Der erste Grund: Heute wird im Historischen Museum der Pfalz die großeSalierausstellung eröffnet, eine Schau, die wie kaum eine andere zuvorneben ihrem herausragenden kulturhistorischen Rang zugleich für dieIdentifizierung der Menschen in unserer Region mit ihrer Heimatsteht. Der SPEYER-KURIER wird diese Ausstellung intensiv durch die nächstenMonate begleiten und dabei immer wieder auch auf vielleicht weniger"nah am Wegesrand" liegende Spuren hinweisen, die dieses bedeutendeHerrschergeschlecht in Speyer und in unserer näherenBadisch-Pfälzischen Heimat hinterlassen hat. Und damit sind wir auch schon beim zweiten Grund, der für dieses neueMedium spricht. Seit langem schon beklagen nämlich nicht nur wir, dieMacher des neuen SPEYER-KURIER, dass der Rhein es bis heute noch nichtwieder geschafft hat, seine Rolle als verbindendes Element in einereinst einheitlichen Kulturlandschaft zwischen Haardt und Odenwaldzurückzugewinnen - so wie er sie über fast ein Jahrtausend ausgefüllthat. Auch wenn heute gleich zwei Rheinbrücken Baden und die Pfalzverbinden, so ist der "Abstand im Kopfe" zwischen vielen Pfälzern undihren badischen Nachbarn noch immer so groß wie er sich nach zweiWeltkriegen und zonaler Trennung nach 1945 entwickelt hat. Der neue SPEYER-KURIER will deshalb Beiträge zur Wiedergewinnungdieses verlorenen einheitlichen kulturellen "Wir-Gefühls" leisten unddazu allen eine Plattform bieten, die sich wie wir diesem Zielverpflichtet fühlen. Dazu erwarten wir, die Macher, vor allem auch viel geistigeUnterstützung aus Speyer und der Region - nicht zuletzt auch von demneuen Speyerer Oberbürgermeister Hansjörg Eger, der am kommendenMontag auf die ersten hundert Tage seiner Amtszeit zurückblicken kann(dritter Grund) und der uns deshalb für ein erstes (und hoffentlichnicht letztes Gespräch...) zu vielen grundsätzlichen Fragen zurVerfügung stand. Der SPEYER-KURIER will künftig auf dem modernsten medialen Wege, demInternet, zu Ihnen nach Hause kommen: Neutral und überparteilich,professionell gemacht, informativ und mit einer bunten Themenvielfalt. Dazu wollen wir das Geschehen in der Region mit ihren zahlreichenVereinen, Verbänden und Gemeinschaften, aber auch in den weltlichenund kirchlichen Gemeinden aktuell widerspiegeln - dies jedoch nichtnur reflektorisch, sondern auch, indem wir eigene Themen setzen. Dazu brauchen wir Sie, unsere Leser! Nutzen Sie deshalb dievielfältigen Möglichkeiten, mitzuwirken. Dazu laden wir Sieausdrücklich ein! Wir, die Macher, freuen uns auf Ihre Meinung, aber auch auf IhreKritik. Also: Auf geht's auf einen täglich aufs Neue inspirierenden undspannenden Rundgang durch die "schöne neue Welt des SPEYER-KURIER". Für das Team des SPEYER-KURIER Gerhard Cantzler Sie befinden sich hier: Shalom - Jüdisches Leben » JüdischeLebensbilder Auf den Spuren einer glücklichen Kindheit: Der in Speyer geborene Rudolf Steger erinnert zum 100. Geburtstag vonIlsa Schiff an eine Speyerer jüdische Familie von Gerhard Cantzler Mit dieser Anzeige, die den SPEYER-KURIERjetzt aus dem bayerischenWolfratshausenim Isartal südlich von München erreichte, möchte unserLeser Rudolf Stegerjetzt an die Speyerer jüdische Familie Wilhelm undMathilde Schifferinnern,in deren Haus in der Speyerer Mühlturmstraße26 - damals noch Hausnummer 5 - dem heutigen “Kurpfalz-Hotel” - RudolfSteger die ersten fünf Jahre seines Lebens verbrachte. “Es ist mir ein sehr persönliches Anliegen”, so schreibt Steger demSPEYER-KURIER, “das Schicksal der Familie Schiff aufzuklären, in derenHaus ich während der ersten 5 Jahre meines Lebens eine glücklicheKindheit verbringen durfte, während die Besitzer - durch dieNationalsozialisten vertrieben - an den Folgen ihrer Deportation nachGurs in Frankreich starben oder im Konzentrationslager Auschwitzermordet wurden”. Wilhelm Schiff wurde am 14.12.1875 in Gladenbach bei Biedenkopf inOberhessen geboren und war mit Mathilde geb. Freudenstein, geb.16.05.1885 in Großheubach bei Miltenberg am Main verheiratet. An11.08.1905 übersiedelten die Eheleute nach Speyer, wo am 12.07.1912auch ihr einziges Kind, ihre Tochter Ilsa geboren wurde. Am 08.08.1939wurde das Ehepaar gezwungen, in die Herdstraße 3 umzuziehen und wurdeam 22.10.1940 nach Gurs, im August 1942 von Drancy nach Auschwitzdeportiert. Laut Angaben des Amtsgerichts Speyer verstarb MathildeSchiff dort am 31.08.1942, ihr Mann wurde zu einem unbekanntenZeitpunkt in Auschwitz umgebracht. Tochter Ilsa war noch am 10.12.1938 nach Mannheim gezogen, kam aberbereits am 14.06.1939 zurück nach Speyer, um dann endgültig am10.08.1940 in die USA zu emigrieren. Mit seiner Wortmeldung möchte Steger jetzt nicht nur an das von ihmbis heute verehrte Ehepaar Schiff erinnern, die damals in der UnterenLanggasse 5a - heute Heimtextilien Menné - die"Kleiderfabrik BrüderSchiff” betrieben, sondern vor allem auch an deren Tochter IlsaSchiff, der es im Geburtsjahr Stegers, im Jahr 1940, noch gelungenwar, ihre Emigration in die USA zu erwirken. Nach ihr hat Steger auchin den USA immer wieder Nachforschungen angestellt, jedoch trotzintensiver Bemühungen keinerlei Spuren von Ilsa Schiff oder einemihren möglichen Nachfahren gefunden. Deshalb will er heute über den SPEYERKURIERan Ilsa Schiff erinnern,deren Geburtstag sich am heutigen Donnerstag, dem 12. Juli 2012, zum100.male jährt. Mit seiner Initiative verbindet Rudolf Steger auch die Hoffnung, dasssich ältere Speyerer Bürger vielleicht an die Familie Schiff erinnernund ihm Informationen über die Familie zukommen lassen könnten. Solche Informationen können an den SPEYER-KURIERunterwerden. Rudolf Steger will sich auch weiterhin der Erforschung derGeschichte der Familie Schiff widmen - der SPEYER-KURIERsie dann auchveröffentlichen. Foto: gc; Stadtarchiv Speyer 11.07.2012 17. CARL LANDENBERGER Carl Landenberger (1) kam am 11.04.1884 in Scheßlitz (2), einemunterhalb der Giechburg und der Felsenkapelle Gügel gelegenenStädtchen im Kreis Bamberg zur Welt. Sein Vater Emanuel verdiente alsViehhändler den Lebensunterhalt für die Familie; seine Mutter warFanny, geb. Heimann, Hausfrau. Ungeklärt ist, ob Carl mit festen Absichten aufgrund einerZeitungsanzeige oder durch Zufall nach Speyer kam. Fest stehtjedenfalls, dass der Schuhfabrikant Bernhard Roos (3) 1909/1910 einefünfstöckige und achtzig Meter lange Schuh- und Gamaschen-Fabrik inder Burg-Straße 7-8 erbaut hatte, und Carl Anfang Februar 1910 (4)dessen frühere Fabrik in der Gutenberg-Straße 18, Telefon-Nr. 2350,übernahm. Dazu brachte er die erforderliche Fachausbildung mit. Erführte das Geschäft in unveränderter Weise weiter, auch an Sonn- undFeiertagen (5). Wie der Beruf des Schneiders (6), so gehört auch der des Schuhmacherszu den ältesten Gewerben der Menschheit. Ein jeder braucht nicht nurKleidung, sondern auch Schuhwerk - beides „die zweite Haut desMenschen“ - und es herrscht meistens Nachfrage darin. Auch nimmt esnicht wunder, dass dem Schuh symbolischer Charakter von Macht, Rechtund Besitz zugeschrieben wird. Probleme ergaben sich aus Überlegungenüber Zeitdauer der Arbeit, Lohn für die Arbeitskräfte und Forderungder Gewerkschaft. Carl Landenberger, nun ein etablierter Geschäftsmann, heiratete am27.06.1912 im Speyerer Standesamt die um sieben Jahre jüngere Sara,genannt Säre. Ihr Vater war Leopold Lehmann, Viehhändler von Beruf wieder Vater des Bräutigams und Rechner des IsraelitischenWohltätigkeitsvereins (7); ihre Mutter war Karolina, genannt Clara,geb. Wertheimer, seit 1911 Vorsitzende des IsraelitischenFrauenvereins. Als Trauzeugen fungierten der Vater der Braut Leopoldund der Hauptlehrer Leo Waldbott (8). Die Braut hatte noch einenjüngeren Bruder namens Josef, Jahrgang 1893, genannt Joe, weil er sicheine Zeitlang bei zwei Onkeln in den USA aufgehalten hatte. Er war einbesonders charaktervoller junger Mann und Vertreter der SchuhfabrikBernhard Roos. In seiner Freizeit spielte er gerne im Klub derKegelfreunde. Für ihn war Kegel schieben mehr als nur ein Sport. Carl hatte bei der Wahl seiner Braut großes Geschick gezeigt. DieLehmanns stammten aus Gommersheim und waren zu Beginn der 60er Jahredes 19. Jahrhunderts nach Speyer übersiedelt. Leopold wohnte in dernahen Wormser-Straße 13, in einem Anwesen, das er 1895 zum Preis von24 600 Mark gekauft hatte. Er besaß die sprichwörtliche Schläue seinesBerufstandes, gepaart mit Wohltätigkeit, die er aber nach echtaltjüdischer Sitte und Art stets im Verborgenen ausübte. Am 15.08.1888hatte er mit seiner Frau Clara der Synagoge einen Toramantel aus lilaSeidensamt, mit breiter Goldborte geschenkt (9). Aus welchembestimmten Anlass diese Schenkung geschah, ist unbekannt. DieFamilienmitglieder lebten in sehr gutem Einvernehmen miteinander.Carls Frau Säre war mit 23 Jahren Vertreterin des IsraelitischenFrauenvereins im Arbeitsausschuss (10). Damals waren Gamaschen, diese Schuhbekleidung des Oberfußes ausweichem Leder, noch in Gebrauch. So verkündigte Carl in einerZeitungsanzeige (11), dass er nach beendeter Inventur „einen Posten Reit-, Jagd- und Automobil-Gamaschen in schwarz und braun, mit und ohne Wickelriemen zum Einheitspreis von Mark 8,50 per Paar verkaufe, früherer Preis bis zu Mark. 20,- per Paar. Auf alle übrigen Gamaschen 10% Rabatt. Gamaschen en gros und en detail. NB: Die Reitgamaschen sind teilweise im Schaufenster ausgestellt“. Wie viel Geld sein Unternehmen jährlich umsetzte, ist nicht bekannt.Weder er noch Bernhard Roos oder Josef Müller (12) beabsichtigten, mitihren Fabrikationsbetrieben der „Deutschen Schuhmetropole“ Pirmasensim südlichen Pfälzer-Wald Konkurrenz zu machen. Dort hatte sich seit1857 eine Schuhindustrie angesiedelt, die ihre Waren mit Erfolgproduzierte und noch im Wachsen begriffen war. Carl Landenberger undKollegen beschränkten sich darauf, den Bedarf am Standort, im näherenUmland und in Baden zu decken. Als am 01. 08. 1914 der Erste Welt ausbrach, rückte auch Säres BruderJoe aus Vaterlandsliebe und ohne zu fragen und zu zögern ins Feld.Sieben Wochen nach Beginn des Gemetzels an den verschiedenen Frontenbrachte Säre am 21.09.1914 die Tochter Grete Emilie zur Welt. Siehatte auch einen Sohn namens Hans, über den aber kaum etwas bekanntist. Beide Kinder wurden nach deutschen und jüdischen Grundsätzenerzogen, wobei das Zusammenleben in der „Mischpoche“ und „Kehilla“ imMittelpunkt stand. Verschiedene Frauenvereine hatten vom 01. bis 15.03.1916 zur„Kriegsspende Deutscher Frauendank“ aufgerufen, um begabten Kindern,alten Müttern, Großmüttern und Tanten, die keinen Anspruch aufReichshilfen hatten, eine Unterstützung zu gewähren. Zu den Vereinengehörte der von Carls Schwiegermutter Clara geleitete IsraelitischeFrauenbund (13). Die Vereine veranstalteten die Sammlung bei ihrenMitgliedern mit Büchsen und Listen. Die Nichtmitglieder wurdenherzlich gebeten, ihre Spende bei einer von sechs Sammelstellenabzugeben, darunter befanden sich die Geschäftsstelle der SpeiererZeitung und das Schuhhaus Leopold Klein (14). Die Sammlung ergab den hohen Betrag von 5005,23 Mark (15). An derWestfront tobte vom 21.02. bis zum 09.09. 1916 die Schlacht um dieFestung Verdun - Englands „Festlandsdegen“ - mit der derGeneralstabschef Erich von Falkenhayn die französische Armeezerbrechen wollte. Beiden Seiten gelang es jedoch nicht, dieerstarrten Fronten in Bewegung zu bringen. Die Todesanzeigengefallener Soldaten häuften sich dramatisch, und immer mehr Eltern,Ehefrauen und Bräute trauerten um ihre Lieben, die nicht mehr dawaren. - Um die gleiche Zeit führte Carl für Speyer den Alleinverkaufvon Sparol-Sohlen, die sich zur Erneuerung abgetragener Sohlenbesonders gut eigneten (16). Als Gefreiter und Funker verdiente sich Joe in harten Kämpfen dasEiserne Kreuz sowie das Bayerische Militärverdienstkreuz 3. Klasse mitSchwertern (17). Schließlich überstand er heil das sinnlose Töten undZerstören, das nicht einmal der Hunnen-König Attila mit seinenReiterhorden hätte anrichten können. Es führte nur zur nationalenKatastrophe des Wilhelminischen Reichs. Joe konnte aber in derschwierigen Nachkriegszeit nicht vorausahnen, dass ihn die Macht desSchicksals bald mitten im Frieden in die Tiefe reißen würde. Im italienischen Winterkurort San Remo stellten dieMinisterpräsidenten der Entente-Mächte auf ihrer Konferenz vom19.04.-26.04.1920 die Unverletzlichkeit des VersaillerFriedensvertrages fest. Bei seiner Nichterfüllung wurde dem DeutschenReich die Möglichkeit der Besetzung weiterer deutscher Gebieteangekündigt. Gegen Ende dieser Beratung fand am 25.04. in der VillaDevachan die „Zweite San Remo-Konferenz“ statt. Aufbauend auf die„Balfour-Deklaration“ vom 02.11.1917 der britischen Regierung an denPräsidenten der „English Zionist Federation“, Baron Lionel WalterRothschild - er hatte eine Schwäche für Herzls Traum - bestätigte sie… „…die nationale jüdische Souveränität über das Land Israel unter internationalem Recht und die historische Verbindung des jüdischen Volkes zu dem Territorium, das vormals Palästina hieߓ. Diese Erklärung begrüßten hauptsächlich die Zionisten aus vollemHerzen, assimilierte westdeutsche Juden hingegen maßen ihr keinebesondere Bedeutung bei. Seit Generationen betrachteten sieDeutschland, dieses mitteleuropäische Land, als ihre Heimat und hattenkeine Absicht, als „Jeckes“ (18) nach dem damaligen Palästinaauszuwandern. Dort gab es viele Steine und wenig Bäume, wurde eineFremdsprache gesprochen, herrschte ein ungewohntes Klima und wurdendringend Landwirte und Handwerker gebraucht. Es ist zugleich das Jahr,in dem ein völlig gegensätzliches Dokument erschienen war. AdolfHitler stellte am 24.02. im Hofbräuhaus in München das25-Punkte-Parteiprogramm mit antisemitischem Schwerpunkt auf, das„unabänderlich“ gelten sollte. Gleichsam als praktische Anwendungdaraus schändeten randalierende Antisemiten auf dem neuen jüdischenFriedhof der Speyerer Gemeinde (19) mehrere Grabsteine. Eine ähnlicheMissetat war bereits im Juli 1869 auf dem „Judengärtel“ begangenworden, als „mehrere Grabsteine von roher Hand mit schwarzer Farbeverunreinigt“ wurden (20). Kein gutes Omen! Landenberger wurde am 18.07.1920 als Ersatzmann in den Synagogenratgewählt, dessen Vorsteher Benedikt Cahn (21) war. Damals zählte dieGemeinde ca. 380 Mitglieder. Der neue Ersatzmann fühlte sich wohl inder Gemeinde, die traditionell jedem Mitglied Gleichberechtigung undfreie Entfaltung bot, in der Überzeugung, wie alle seineGlaubensgenossen trotzdem ein guter Deutscher zu sein. Am 02.07.1926 erschütterte eine Nachricht die FamilienLandenberger-Lehmann. Joe, einziger Sohn der Familie, Frontheimkehrerund noch ledig, auf den sie zu Recht große Stücke hielten,verunglückte schwer. Er fuhr mit dem Dienstauto von einerGeschäftsreise heimwärts, als es kurz vor Frankfurt am Main passierte.Der genaue Hergang des Unfalls ist nicht bekannt. Die „SpeiererZeitung“ (22) berichtete lediglich, dass Joe nach dem Unfall noch imStande war, selbst Anordnungen zu treffen, denen zufolge er mit einemKrankenwagen sofort in die Universitätsklinik überführt wurde. Aber esgelang der Heilkunst der Ärzte nicht, das Leben desDreiunddreißigjährigen zu retten. Was für ein grausamer Schlag wardieser plötzliche Verlust für die Familie und seine Freunde! Die Firma„Bernhard Roos AG“ verlor einen langjährigen, treuen und zuverlässigenMitarbeiter, ja Freund, dem das Interesse seiner FirmaHerzensangelegenheit war. Joe wurde auf dem südlichen Feld desjüdischen Friedhofs in Speyer bestattet. Die Trauernden saßen sieben,hebr. Schiwe, Tage ohne Schuhe auf einem niedrigen Schemel und nahmendie Kondolenzbesuche entgegen. Bekanntermaßen kommt ein Unglück selten allein. Im gleichen Jahr 1926erlitt Carl geschäftlich einen heftigen Rückschlag. Ein 17-jährigerAngestellter missbrauchte das Vertrauen und Wohlwollen seines Chefsund bestahl die Firma um schätzungsweise 600 Paar Schuhe. Erschmuggelte sie nach und nach aus dem Lager heraus, und Hehler setztensie im benachbarten Baden ab. Der Schaden belief sich auf ca. 12 000Mark. Schließlich wurde der Täter auf frischer Tat ertappt, legte beimVerhör ein reuiges Geständnis ab und wurde fristlos entlassen. DieHehler, die es für eine „Heldentat“ hielten, einen „Saujud‘“ zubestehlen, verbüßten eine Haftstrafe (23). Zwei Jahre später, am 10.03.1928, starb Carls Schwiegervater Leopoldnach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 73 Jahren. SeineFamilienangehörigen, Freunde, die Mitglieder des Wohltätigkeitsvereinsund Bekannte gaben ihm das letzte Geleit, und er wurde bei seinemunvergessenen Sohn Joe beigesetzt. Im April des folgenden Jahres bogenunbekannte Einbrecher einen Teil des Synagogen-Geländes gewaltsam umund brachen ihn ab (24). Leopolds Witwe Clara verkaufte ihr Anwesen1929 und zog am 01.09.1932 zu ihrer Tochter in die Gutenberg-Straße18, nichts Gutes ahnend für die kommende Zeit. Mit dem Beginn der NS-Gewaltherrschaft kreiste das beherrschendeGesprächsthema in der jüdischen Gemeinde Speyer und in denPrivatwohnungen ihrer Mitglieder um zwei Punkte, die zusammenhingen:den altbekannten, aber jetzt virulent auftretenden Antisemitismus, derselbst Kinderseelen mit Hetzparolen wie „Trau keinem Fuchs auf grünerHeid, trau keinem Jud‘ bei einem Kind“ vergiftete, und um den fasttäglich ansteigenden Verfolgungsdruck. Wie jeder andere Zeitgenossewusste Herr Landenberger keinen Rat. Die Lage war schlicht undergreifend ausweglos. Dessen ungeachtet heiratete Carls Tochter Grete Emilie, am 11.04.1935,in Mannheim den aus Heidelberg gebürtigen Kaufmann Helmut Wolff. Wegender veränderten politischen Lage planten beide, sicher nicht frei vongemischten Gefühlen, ihre gemeinsame, ungewisse Zukunft. Da Carl dieZeichen der Zeit richtig erkannte, begann er die erforderlichenDokumente zur Emigration zu beantragen, um sich für alle Fällehinreichend gerüstet zu fühlen. Am Sonntag, dem 28.11.1937, wohnte er mit Familie der Gedenkfeieranlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Speyerer Synagoge bei.Ein äußerst seltenes Ereignis, das kein Gemeindemitglied verpassenwollte und konnte. Das Programm umfasste wieder achtzehn Punkte wie imJahre 1837, so sollte schon äußerlich eine Verbindung zwischen beidenFeiern hergestellt werden. Die Chorleitung hatte Werner Seligmann(25), Alfred Cahn (26), ein fünfzehnjähriger Junge, saß an der Orgel.Manche Gebete und Gesänge erklangen der Festgemeinde zwar sehrvertraut, nur die Stimmung war halt anders, völlig anders. Sie glicheher einer vorgezogenen Trauerfeier. Darauf ging der Bezirksrabbiner,Dr. Ernst Steckelmacher, der bereits fünf Jahre NS-Diktatur anexponierter Stelle erdulden musste, in seiner wie üblich geschliffenenGedenkrede behutsam, aber deutlich ein: „Die Juden haben längst Selbständigkeit und Vaterland verloren, aber bei dem Untergang aller Institutionen blieb die Synagoge als einziger Träger ihrer Nationalität, dorthin floh ihr Glaube und von dort her empfingen sie Belehrung für ihren irdischen Wandel, Kraft und Ausdauer in unerhörten Leiden“(27) Alle Anwesenden war es nämlich mehr als bewusst, dass ihre Tage in derDomstadt schon gezählt waren. Als stummes Zeichen des Protests gab dieKultusgemeinde an alle Gemeindemitglieder im Inn- und Ausland eine vonReinhold Herz verfasste, bebilderte Festschrift heraus, die imStadtarchiv einzusehen ist. Trotz alledem zahlte Carl weiter bis Oktober 1938 den monatlichenBeitrag von 2,-- RM an die „Reichsvertretung der Juden in Deutschlandfür Hilfe und Aufbau“, eine Organisation, die von der Gestapoüberwacht wurde. Die Beitragskarte Nr. 50281 mit sieben Klebemarkenist erhalten geblieben. Der beispiellose Pogrom am 09.11.1938, gegenden die nichtjüdischen Bürger hauptsächlich aus Angst keinen Protesterhoben, legte ihm, einem deutschen Patriot, die Dringlichkeit nahe,die Risiken einer Auswanderung unverzüglich zu wagen. Doch zunächst wurde er am 12.11.1938, wie alle männlichen JudenSpeyers, in Schutzhaft genommen, Frauen und Kinder mussten bisMitternacht den Gau Saarpfalz verlassen. Er erteilte demKreiswirtschaftsberater der NSDAP, Ludwig Müllberger, erzwungenermaßeneine unwiderrufliche notarielle Vollmacht über sein gesamtes Vermögen,die er unterschrieb (28) und die ganz oder teilweise auf Dritteübertragbar war. Danach wurde er mit den übrigen Leidensgenossen insKonzentrationslager Dachau, nordwestlich von München, gebracht. Andiesem Ort der Brutalität erkannte er das wahre Gesicht desNationalsozialismus und seiner Helfershelfer - Wehrmacht, Justiz undDiplomatie - und das vorrangige Ziel des „Führers und Reichskanzlers“,die Juden zu vernichten. Die Auswanderung war für ihn nun beschlosseneSache. Da der Geist der Rache der jüdischen Religion fremd ist und eingewaltloser Widerstand nicht zur Debatte stand, stellten sich dieGemeindemitglieder erneut die bange Frage: Auswandern wie FriedrichMetzger (29), Ausharren wie bisher oder in die IllegalitätUntertauchen (30)? Keine der drei Möglichkeiten schien eine plausibleAlternative zu bieten, und doch drängte eine Entscheidung. DerGroßteil der Betroffenen tröstete sich jedoch damit, dass dasSchlimmste möglicherweise bald überstanden sei, aber sieunterschätzten die Nationalsozialisten. Das Grausame undUnvorstellbare und deshalb Unglaubliche, nämlich die physischeVernichtung, stand vielen von ihnen kurz bevor (31). Noch unter dem Schock der Lagerhaft verkaufte Carl am 15.12. 1938Geschäft und Wohnung weit unter Wert an einen Interessenten. Dannreiste das Ehepaar Landenberger am 19.01.1939 in die Normandie, nachCherbourg, um sich in diesem wichtigen Kriegshafen mit derHamburg-Amerika-Linie nach Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens,einzuschiffen. Die dortige liberale Regierung war gerade dabei, sich einerkommunistischen Arbeiterbewegung zu erwehren. In dieser Stadt lebtebereits unter den ca. 1500 meist aus Osteuropa stammenden Juden ihreTochter Grete mit ihrem Mann Helmut. Sie selbst hatten jedoch geringeChancen, sich dort anzusiedeln. Bald darauf verloren sie alle durchKommunisten- Umtriebe ihr spärliches Hab und Gut, aber retteten dasWichtigste: das Leben. Ihr Sohn Hans war nach Miami im US-BundestaatFlorida emigriert und hieß seither Henry Landen. Seine Großmutter Clara zog nach dem Novemberpogrom 1938 von Speyer indie badische Großstadt Mannheim, um in der dortigen jüdischen Gemeindebesser geschützt zu sein. Vergeblich. Die Schlinge der Henker zog sichzusammen…Von wo aus die 78-jährige Frau später nach Südfrankreichdeportiert wurde, lässt sich nicht mehr ermitteln (32). Sie kamschließlich in Bandol bei Toulon 1942 ums Leben. Ein kleiner Grabsteinauf dem Speyerer jüdischen Friedhof in französischer Sprache erinnertnoch an sie: „Ici repose notre chère Claire LEHMANN, née Wertheimer, décédée 1942“ . (1) Einige wichtige Informationen über Carl Landenberger verdankt derAutor Alfred Steinmetz aus Speyer. (2) Die wenigen jüdischen Familien dieses Ortes bildeten keineGemeinde und besuchten den Gottesdienst in der Synagoge derNachbarorte Demmelsdorf und Zeckendorf. (3) Vgl. Kurzporträt Nr. 8. (4) Vgl. Speyerer Gewerbeanmelderegister vom 03.02.1910. (5) Als religiöser Jude hielt Herr Landenberger den jüdischen Sabbatein, der am Freitagabend nach Einbruch der Dämmerung beginnt und amSamstagabend bei Dunkelheit endet. Das tat er auch an den hohenjüdischen Feiertagen im September / Oktober. Um gegenüber derKonkurrenz jedoch nicht ins Hintertreffen zu geraten, war seinGeschäft an Sonn- und Feiertagen geöffnet. Vgl. die Speierer Zeitungvom 07.01.1910. (6) Vgl. Kurzporträt Nr. 1. (7) Vgl. das Speierer Adressbuch vom 1894.Wohltätigkeit (hebr. Zedaka)wird im Judentum als eine Nachahmung Gottes verstanden, der sich allerMenschen, besonders aber der Schwachen, erbarmt. Vgl. Psalm 33,5 undSprüche 10,2. Deshalb nimmt sie einen hohen Stellenwert ein. Wie inallen jüdischen Gemeinden gab es auch in Speyer einenWohltätigkeitsverein. Er hatte die Aufgabe, Hilfsbedürftige zuunterstützen, einsame Kranke zu betreuen und Toten einen ehrenvollenAbschied zu erteilen. Die Gemeindemitglieder spendeten für denWohltätigkeitsverein, und die Vereinsmitglieder übten ihre Tätigkeitgenau in der Art und Weise aus, wie sie in der Vereinssatzungfestgelegt wurde. Das nächste jüdische Krankenhaus lag in Mannheim. (8) Vgl. Kurzporträt Nr. 10. (9) Vgl. „Die Juden von Speyer“, Bezirksgruppe Speyer, HistorischerVerein der Pfalz, 2004, S. 180. (10) Vgl. die Speierer Zeitung vom 04.04.1914. (11) Ebenda vom 31.10.1912. (12) Isaak Josef Müller wurde im Januar 1841 in Neuleiningen geboren.Im Jahre 1868 gründete er eine mechanische Schuhfabrik in der SpeyererMühlturm-Straße 4, in der mindestens 85 Arbeiter beschäftigt waren. Erheiratete 1870 in Speyer Amalia, geb. Jacobi, aus Grünstadt. Siewurden Eltern von fünf Söhnen und drei Töchtern, die alle in Speyergeboren wurden. Der sozial eingestellte Fabrikgründer und Mitglied desSynagogen-Vorstands verstarb 65-jährig im September 1906 bei Freiburgi.Br., wo er Heilung vom schweren Leiden gesucht hatte. Die SpeiererZeitung vom 06.09.1906 ehrte ihn mit einem Nachruf. Seine Söhneführten den Betrieb weiter, bis er in der Nazi-Zeit „arisiert“ wurde.Während des Krieges arbeiteten in der Schuhfabrik Ostarbeiter undKriegsgefangene. Müllers Sohn Friedrich kam im Oktober 1942 in KZ.Auschwitz um, der Bruder Richard, dekorierter Frontkämpfer im ErstenWeltkrieg und Oberstaatsanwalt in Frankenthal, überlebte das LagerDachau und den Holocaust. Er verstarb im April 1954 in Ludwigshafen amRhein. (13) Vgl. die Speierer Zeitung vom 29.02.1916. (14) Vgl. Kurzporträt Nr 8, Anmerkung 10. (15) Vgl. die Speierer Zeitung vom 22.03.1916. (16) Ebenda vom 24.03.1916. (17) Ebenda vom 31.03.1917. (18) Nach Palästina eingewanderte deutsche Juden wurden von den dortlebenden Juden „Jeckes“ genannt, weil sie in einer völlig anderenUmwelt stur an ihre deutschen Gewohnheiten festhielten. So trugen sietrotz glühender Hitze Jackett-Anzug mit Krawatte. (19) Diese Untat erschreckte und beunruhigte die Gemeinde, die wiestets in Zeiten der Not noch enger zusammenrückte. Der Synagogenratunternahm das Notwendige, um den Schaden so schnell wie möglichbeheben zu lassen. Der oder die Täter wurden von der Polizei nichtermittelt. (20) Vgl. „Jüdisches Leben in der Pfalz“ von Bernhard Kukatzki, S. 56. (21) Benedikt Cahn, im Januar 1854 in Rülzheim geboren, wurdeZigarrenfabrikant mit Tabakfabriken in Hördt und Lingenfeld und Büroin Speyer. Seine Frau hieß Julia, geb. Mayer, aus Hochstadt. Siewohnten in der Herd-Straße 3 und hatten drei Töchter und eineneinzigen Sohn, Ludwig. Dieser fiel als Infanterist nach dreijährigemEinsatz 1917 in Frankreich. Benedikt stand der Gemeinde vom 1918 bis1929 vor. Er starb im Mai 1936 im vornehmen Berlin-Charlottenburg beiseiner verheirateten Tochter Nelly. Seine Beisetzung fand auf demjüdischen Friedhof in Speyer statt. Seine Frau wurde im März 1943 imKZ Theresienstadt ermordet. (22) Vgl. die Speierer Zeitung vom 05.07.1926 (23) Ebenda vom 04.09.1926. (24) Ebenda vom 02.05.1929. (25) Werner Seligmann, geboren im Dezember 1909 in Speyer, war daseinzige Kind von Sigmund und Klara, geb. Weinstein. Er wurde Kaufmannvon Beruf und betätigte sich als Musiker in seiner Freizeit. ImOktober 1939 heiratete er Eleonore, geb. Kling, aus Mannheim. Von dortaus wurden beide im folgenden Oktober nach Gurs verschleppt und in KZAuschwitz ermordet. Datum unbekannt. (26) Alfred Cahn erblickte das Licht der Welt am 27.03.1922 in Speyerals Sohn des Rauchwarenhändlers Maximilian und dessen frühverstorbenen Ehefrau Thekla, geb. Eisemann. Er überlebte mehrereLager, darunter Gurs, wo er einen Kinderchor gründete, dank der Liebezur Musik. Seit 1948 lebt er als Pianist in Milwaukee, US-BundesstaatWisconsin. (27) Vgl. das „Jüdische Gemeindeblatt für das Gebiet der Rheinpfalz“Nr. 4, 1938. (28) Carls Unterschrift erscheint auf der Abschrift der AllgemeinenVollmacht, die das Stadtarchiv Speyer unter I A 8 e fol. 4 ffverwahrt. (29) Friedrich Metzger war mit seiner Familie bereits im Herbst 1933ausgewandert, da ein „Turnbruder“ ihn rechtzeitig vor dem Rassenwahnder Nationalsozialisten gewarnt hatte. Erst auf mehreren Umwegenerreichten sie die USA. (30) Illegalität ist die Hölle. Als gebürtiger Speyerer weigerte sichBerthold Böttigheimer auszuwandern, wie viele seiner Glaubensgenossen.Er tauchte im Vertrauen auf seine „arische“ Frau und einen großenFreundeskreis am 07.11.1943 unter. Aus „Herr Böttigheimer“ war „HerrFrank“ geworden. Acht befreundete Familien versorgten ihn im Versteckmit allem Notwendigen zum Leben, abwechselnd, um das Risiko zuverteilen. Die Gestapo zwang seine Frau, sich von ihm am 27.06.1944scheiden zu lassen. Der Tag der Befreiung brach an, als amerikanischeTruppen am 24.03.1945 in die Stadt einrückten. Am 10.01.1980,fünfunddreißig Jahre nach seiner Rettung, ging er den Weg allesIrdischen. (31) Mehrere Speyerer Juden wählten vor der Oktober-Deportation 1940angesichts der völlig hoffnungslosen Lage den Freitod durch Gift,Strang oder auch auf andere Art und Weise. Dazu wurden sie durchnackte Gewalt getrieben. (32) Freundliche Auskunft des Stadtarchivs Mannheim. 30.10.2011 16. DR. MED. WILLY TAENDLER Willy Taendler stammte ursprünglich aus Rogasen, polnisch Rogozno, woer am 21.01.1872 geboren wurde. Der Ort liegt in der Provinz Posen,heute Poznan, einer der früheren „Hauptstädte“ Polens. Seit densiegreichen Freiheitskriegen von 1814/15 und bis 1920 gehörte dieseProvinz zu Preußen und hieß „Südpreußen“. Seine Eltern waren der am02.02.1837 in Rogasen (1) geborene Kaufmann Abraham, gen. Adolf, unddessen ebendort am 28.12.1848 geborene Frau Sara, gen. Dora, geb.Schocken. Sie war sehr wahrscheinlich mit der Familie des Verlegersund Warenhausbesitzers Salman Schocken (2) verwandt, der aus Margoninbei Posen stammte. Damit gehörten sie zu der gehobenen Schicht derKleinstadt. Willy bekam am 05.07.1873 einen Bruder namens Richard.Willy hatte sich für den Arztberuf entschieden. Die Posener Juden waren, verglichen mit der meist ländlich geprägtenpolnischen Bevölkerung, Kaufleute und Handwerker mit einem hohenLebensstandard. Wie so oft blieb der Neid der Nichtjuden nicht aus.Aufgrund dieser gespannten Beziehungen zwischen den beidenVolksgruppen übersiedelte Dr. Taendler Ende des 19. Jahrhunderts nachdem Südwesten des Kaiserreichs, in die Domstadt Speyer. In der Bischofsstadt wohnte er zunächst in der Rützhaubstraße 7, Tel.85. Als Ludwig Ganghofer im Jahr 1899 seinen Roman: „Das Schweigen imWalde“ veröffentlichte, heiratete er am 24.05. Clara, gen. Jenny, geb.Mager, wohnhaft in der Speyerer Ludwigstraße 13. Die Braut war keinegeborene Pfälzerin, sie war auch nicht in Deutschland zur Weltgekommen. Sie hatte am 01.01.1878 in New York das Licht der Welterblickt als ihre Eltern, der Hemdenfabrikant David Mager ausKrautheim / Baden und dessen Ehefrau Emma, geb. Rosenfeld, ausOeynhausen an der Werre, beide wohnhaft in Speyer, sich gerade in deramerikanischen Metropole aufhielten. Der Zeremonie im Standesamtwohnten als Trauzeugen bei: Jakob Mager, Onkel der Braut, und derLackfabrikant Georg Wilhelm Strasser (3). Im folgenden Jahr, am 01.04.1900, verstarb Willys Vater Adolf nachlangem Lungenleiden und wurde auf dem südlichen Hauptweg des jüdischenFriedhofs in Speyer bestattet. Auf seinem Grabstein stehen die Worte:„Friede seiner Asche“ (4). Nur viereinhalb Monate später, am 15.08.,gebar Willys Frau in Speyer einen Sohn, dem sie den Namen desGroßvaters Adolf gaben. Dr. Taendler hatte die Praxis bei seiner Wohnung und praktiziertemorgens von 8 bis 9 Uhr und nachmittags von 12 bis 14,30. Nach Aussagedes Zeitzeugen Emil Fertig (5) duzte er alle Menschen, die ihn dortaufsuchten und die ihn mochten. Sie beschrieben ihn als volksnah undlebensfroh, Eigenschaften, die manchmal auch zu Missverständnissen undVerdächtigungen führten. Außerhalb der Praxisstunden machte Dr.Taendler Hausbesuche und schaute nach seinen Patienten, die im St.-Vincentius-Krankenhaus lagen. Er war damit Arbeitskollege von Dr.Siegmund Reis (6). Es gab aber auch Krankenhäuser, die jüdische Ärzteaussperrten. Das Gleiche galt für Zahnärzte und Apotheker, die damalsvon dieser antisemitisch beeinflussten Einstellung ihrer Mitmenschennicht verschont blieben (7). Im St. Vincentius-Krankenhaus entfaltete Dr. Taendler, im weißenKittel mit dem Stethoskop um den Hals und Notizbrett in der Hand,einen beachtlichen Teil seiner Tätigkeit. Da die Anstalt noch überkeinen leitenden Hausarzt verfügte, war es jedem Patienten gestattet,den Arzt seiner Wahl mitzubringen. So behandelte er im Jahre 1906 59Patienten, davon 45 Kassenpatienten zum Tagessatz von 2,20 Mark, und14 Privatpatienten. Es war nach der vorliegenden Aufstellung diehöchste Patientenzahl pro Arzt. Im Jahre 1922 schlug dieOrtskrankenkasse Dr. Taendler als Hausarzt für alle Kassenkranken imKrankenhaus vor. Im gleichen Jahr erhielt er für seine Leistungen einHonorar von 639 Mark. 1926 betreute er 35 Patienten, 1927 130 und imfolgenden Jahr 103. Er rangierte in der Liste der ärztlichenLeistungen an dritter Stelle (8). Wie in den meisten jüdischen Familien üblich, beschäftigte Dr.Taendler ein Dienstmädchen vom Lande, dem die Haushaltsführung oblag(9). Am 01.04.1908 hatte er dieses Mädchen aufgrund seinermangelhaften Arbeitsleistung entlassen. Nach einem Pressebericht (10)benutzte diese Frau ihre Kenntnisse des Hauses und der Gewohnheitenseiner Bewohner, um sie mit Hilfe eines Nachschlüssels um 500 bis 600Mark zu erleichtern. Aus Rache, Habgier oder aus purer Not? Dr.Taendler entdeckte den Fehlbetrag bei der Revision seiner Kasse understattete Anzeige. Der Polizei gelang es schnell, die Täterin zuermitteln und sie zur Rückerstattung des Geldes zu bewegen. Mit derneuen Haushaltshilfe hatte Dr. Taendler wieder Glück. Im Jahre 1909 traten er und seine Frau Clara dem Israelitischen Vereinfür das Altersheim für die Pfalz bei (11). Da die Praxis gut lief,erwarb er im gleichen Jahr von den Erben Schwesinger für 6000 Mark denBauplatz, der an der Ecke Ludwigstrasse / Zeppelinstraße lag. Dortließ er sein neues Domizil mit Praxis im Jugendstil erbauen:Ludwigstraße 12a, heute Nr. 25 (12). Er fühlte sich mittlerweile alsSpeyerer Bürger fest verwurzelt wie ein Alteingesessener. Er nahm am Ersten Weltkrieg 1914-1918 nicht aktiv teil, aber erpflegte die Verwundeten an der Heimatfront, in den verschiedenenLazaretten der Stadt. Die militärische Niederlage des Deutschen Reichsund folglich die Rückgabe Posens an Polen stellten zwei politischeEreignisse dar, die sein Leben direkt betrafen. Aufgrund desverlorenen Krieges hatte sich das wirtschaftliche und politische Klimain Deutschland, zumal für Bürger jüdischen Glaubens, zum Schlechterenverändert. Seit der Aufstellung des „unabänderlichen“ Parteiprogramms der NSDAP1920 mit seinem antisemitischen Schwerpunkt (13) gehörtengelegentliche Übergriffe gegen jüdische Bürger auf offener Straße undam helllichten Tag beinahe zur Normalität der Weimarer Republik. UnterPunkt 4 des Programms hieß es ja: „Kein Jude kann Volksgenosse sein.“ So zog Willys Bruder Richard, der mittlerweile als Mitarbeiter derDresdner Bank in Mannheim gewirkt hatte, daraus als einer der erstenJuden seine Schlussfolgerung. Er emigrierte am 19.10.1924 in die amStillen Ozean gelegene Hafenstadt Valparaiso / Chile - den Geburtsortdes späteren Staatspräsidenten Salvador Allende - wo ca. 3000 Juden inSicherheit lebten. Willys Sohn Adolf folgte seinem Onkel Richard imgleichen Jahr nach, nicht ahnend, dass sie damit dem „Holocaust“entkämen. Am 26.11.des gleichen Jahres starb Willys Mutter Dorafriedlich nach kurzem Unwohlsein und wurde in aller Stille auf demjüdischen Friedhof bei ihrem Mann beigesetzt. Da die politischen Verhältnisse, statt sich zu bessern, ständigeskalierten, - der Pfälzer Wilhelm Frick war im Januar 1930 alsNationalsozialist Innenminister in Thüringen geworden - und Dr.Taendler das Gefühl hatte, in Speyer auf dem Präsentierteller zusitzen, zog er mit seiner Frau Jenny am 01.04.1930 in den KurortWiesbaden nach 30-jährigem Aufenthalt in der Domstadt. Mit seinemWegzug gab es dann in Speyer keinen jüdischen Arzt mehr. In der Anonymität der hessischen Großstadt hofften die Eheleutezumindest vor unmittelbaren Gefahren besser geschützt zu sein. InWirklichkeit gingen sie dort, wie Dr. Reis und seine Frau, denschwierigsten Jahren ihres Lebens entgegen. Zuerst wohnten sie in derAdolf-Allee 30, wo Dr. Taendler auch praktiziert haben soll, unddanach in der Sonnenberger Straße 22. Beide Domizile entsprachen demgehobenen Charakter einer internationalen Kurstadt. Die jüdische Gemeinde Wiesbaden schwankte - wie alleSchwestergemeinden im Dritten Reich - zwischen Resignation,Verzweiflung und Prinzip Hoffnung (14). Sie gedachte mit Wehmutvergangener Zeiten, als sie, die Bekenner mosaischen Glaubens, vonihren Bürgern meistens anerkannt und respektiert waren. So war esbeispielsweise zurzeit Abraham Geigers (1810-1874), als dieserGelehrte vom 1832 bis 1838 dort als Rabbiner und Dozent wirkte (15). Am 25.07.1938 strich die NS-Führung die Approbationen sämtlicherjüdischer Ärzte. Von nun an waren einige von ihnen lediglich„Krankenbehandler“ zur Versorgung von Juden zugelassen. Medikamentebekamen sie keine mehr. Und das, obwohl gerade jüdische Ärzte seitjeher einen ausgezeichneten Ruf genossen und eine erlesene Kundschaftbei ihnen verkehrte. Dieses Unrecht, das Dr. Hirsch nicht ahnen konnteund Dr. Reis noch erspart geblieben war, traf Dr. Taendler in vollerSchärfe. Dachte er danach doch, zu seinem Sohn nach Chile auszuwandernoder gar unterzutauchen? Oder erlag er einer Selbsttäuschung? Der Novemberpogrom des gleichen Jahres, der beispiellos im ganzen Landwütete und gegen den sich kein nennenswerter Protest erhob, weil sichin den Köpfen der Zuschauer noch der alte Obrigkeitsspruch steckte:„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ oder vielmehr, weil die MenschenAngst vor dem herrschenden Terror hatten, raubte ihm und seiner Fraudie letzten Illusionen. Und das erst recht, als dieNationalsozialisten im September 1939 mit dem Überfall auf Polen denZweiten Weltkrieg entfesselten. Für sie war Deutschland keineKulturnation mehr, zu deren Entwicklung Juden durch ihre Leistungenmaßgeblich beigetragen hatten. Diese neue Lage verdeutlichte ihnen,dass der Anfang von einem Ende mit entsetzlichen Folgen nuneingeleitet sei. Ab September 1940 lebten sie mehr schlecht als recht in derBlumenstrasse 7. Die Anfangssiege der Wehrmacht im Westen über dieneutralen Staaten Belgien, die Niederlande und Luxemburg empörten ihrRechtsempfinden. Mit Entsetzen erfuhren sie von der „Abschiebung“jüdischer Bürger aus dem Südwesten des „Großdeutschen Reiches“, wozuauch die Speyerer Juden gehörten. So wurde dieser Teil Deutschlandsnach den ehrgeizigen Plänen der Gauleiter Josef Bürckel (16) / GauWestmark und Robert Wagner / Gau Baden als erster „judenrein“ (17),womit sie dem „Führer“ rein „arische“ Gaue präsentieren wollten. Am 13.06.1942 wurden Dr. Taendler und seine Frau zur besserenÜberwachung in ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Bahnhofstrasse 25umgesiedelt. Es war ein Haus, das Juden gehört und in dem auch „Arier“gewohnt hatten, die aber ausgezogen waren, so dass Räume zur Verfügungstanden, die mit weiteren Juden belegt wurden. Dort mussten sie mitmehreren Leidensgenossen in miserablen Verhältnissen hausen, faktischwie Gefangene: die Vorstation des Lagers. Von dort aus wurden sie am 01.09.1942 mit Zügen der DeutschenReichsbahn, die vor aller Augen zusammengestellt wurden, in das neueAltersghetto Theresienstadt-Terezin, (18) deportiert. Es war dieStadt, die der Führer nach der Nazi-Propaganda den Juden geschenkthatte. Dieses Lager erweckte nach außen hin tatsächlich den Anscheineiner harmlosen Stadt, so sehr waren die braunen Machthaber darin zuMeistern der Täuschung geworden. Am 06.11. des gleichen Jahres traf inTheresienstadt ein Deportierten-Transport ein, dem unter anderenUnglücklichen eine beeindruckende Frau entstieg: die vierzig-jährigeledige Regina Jonas (19), die weltweit erste Rabbinerin. Als solchewird sie sich um die erbärmliche Lebensverhältnisse der Lagerinsassengekümmert haben. Ob sie auch das Ehepaar Dr. Taendler ansprach, bleibtnur Spekulation. An den Entbehrungen der Lagerhaft verstarb Willy Taendler am23.09.1942, im Alter von 70 Jahren, wie sein Berufskollege Dr.Sussmanowitz in Gurs. Im Winter des gleichen Jahres begann in derSowjetunion die Schlacht um Stalingrad, das sich zu erobern AdolfHitler aus Prestigegründen geschworen hatte. Sie aber markierte denWendepunkt des Zweiten Weltkrieges und zugleich den Anfang vom Endenationalsozialistischer Gewaltherrschaft. Jenny Taendler wurde von Theresienstadt in das VernichtungslagerAuschwitz-Birkenau verschleppt. Sie musste schwerste Arbeit verrichtenund hoffte noch immer, aus dieser Hölle auf Erde lebend noch einmaldavon zu kommen. Hatte sich im Lager die Nachricht vom Untergang der6. und Teile der 4. deutschen Panzerarmee in Stalingrad bereitsherumgesprochen? Nach einem Lageraufenthalt (20) von insgesamt zwanzigMonaten wurde sie am 15. 05.1944 in die „Entlausungsanstalt“geschickt, wo sie binnen Minuten umkam. Ihre Leiche wurde anschließendin den Öfen verbrannt und die Asche in die Sola geschüttet. DieBefreiung der Lagerinsassen durch Truppen der Roten Armee, am27.01.1945, (21) kam für sie zu spät. Willy und Jenny Taendler starbenals unschuldige, wehrlose, „rassische“ Rivalen der selbst ernannten„Herrenmenschen“. Auf Initiative von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Vereins „AktivesMuseum Spiegelgasse für Deutsch-Jüdische Geschichte in Wiesbadene.V.“, dessen zentrales Anliegen der Erinnerungsarbeit das namentlicheGedenkenist, wurden am 03.07.2009 in der Sonnenbergerstrasse 22 imGedenken an Dr. Willy Taendler und seine Frau Jenny Clara je einStolperstein des Künstlers Gunter Demnig aus Köln verlegt (22). Wersehen will und nachdenken kann, wird so dazu angeregt (23). Denn mankann nach der Barbarei des Holocaust nicht zur Tagesordnung übergehen,so als wäre nichts geschehen. (1) Von den ca. 1000 jüdischen Bewohnern, die im Jahre 1793 inRogasen lebten, waren es kurz vor dem Ersten Weltkrieg nur noch etwa500 übrig geblieben. (2) Der Schocken-Verlag leistete durch seine Veröffentlichungeneinen bedeutenden Beitrag zur deutschen Kultur. Sein Begründer SalmanSchocken, geb.1877 gest. 1959, gab Bücher heraus von Martin Buber,S.J. Agnon, Franz Kafka, Karl Wolfskehl, und Manfred Mombert u. a. DerVerlag bestand von 1932 bis 1938. (3) Jakob Mager, der jüngere Bruder Davids, 1858 in Weingarten / Badengeboren, war Möbelfabrikant von Beruf, königlicher Hoflieferant,Stadtrat von 1899 bis 1907 und erster Vorsitzender der GemeinsamenOrtskrankenkasse. Georg Wilhelm Strasser wohnte in der Gilgen-Straße5. (4) Im Judentum wird das Sterben und der Verwesungsprozess im Grab,ähnlich wie im Christentum, als Buß- und Sühnegeschehen aufgefasst.Zwar gilt ein Toter als rituell unrein, aber Gott hat die Macht, Leibund Seele bei der Auferstehung zusammenzuführen. Aus diesem Grund wirddie Erdbestattung empfohlen, die einer tausendjährigen Traditionentspricht. Eine Feuerbestattung wird jedoch geduldet. (5) Emil Fertig gab dem Autor diese Auskunft in einem Gespräch am09.02.1999. (6) Vgl. Kurzporträt Nr.10. (7) Vgl. „Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunftder deutschen Juden“ von Dr. Rieger, Berlin 1918. (8) Vgl. „St.- Vincentius-Krankenhaus Speyer 1905-2005“ von Karl HeinzDebus unter Mitarbeit von Doris Debus, S. 69,84,88,131. (9) Eine solche Haushaltshilfe benötigten vor allem religiöse Judenwegen ihrer Einhaltung der strengen Arbeitsruhe am Sabbat, demjüdischen Feiertag. Zumindest gab es immer die „Schabbesmagd“, eineNichtjüdin, die die Hausarbeit am Samstag erledigte. (10) Vgl. die Speierer Zeitung vom 07.05.1908. (11) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer a. Rhein 1909. (12) Vgl. die Speierer Zeitung vom 31.03.1909. (13) Die nationalsozialistische Ideologie gründete aufVoraussetzungen, die schon als solche falsch waren. Es gibt keineÜbermenschen und keine Untermenschen, sondern nur Menschen. Diesekönnen sich wohl aufgrund von verschiedenen Faktoren wie Klima,Umwelt, Geschichte und Kultur voneinander unterscheiden. Mehr nicht.Es gibt keine Rasse im wissenschaftlichen Sinne, sondern nurRassisten. (14) „Das Prinzip Hoffnung“ ist der Titel einer Schrift desmarxistischen Philosophen Ernst Bloch. Er wurde 1885 in Ludwigshafenam Rhein geboren und emigrierte 1933 in die USA. Dort verfasste er diegenannte Schrift in den Jahren 1938-47. Darin wie in anderen Werkensind deutliche Spuren der hebräischen Bibel und der chassidischenErzählungen zu finden, obwohl er sie im Sinne des Sozialismusumdeutet. So sind die theologischen Begriffe „Gott“, „Exodus“ und„Reich“ lediglich Vorwegnahmen einer glücklichen Zukunft derMenschheit. Bloch war tätig nach einer Zwischenzeit von 1949 bis 1957als Professor in der DDR, seit 1961 in Tübingen, wo er 1977 verstarb. (15) Abraham Geiger war der bedeutendste Vertreter der Reformbewegungim deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. Er wurde 1870 Rabbiner inBerlin. Er erforschte alle Gebiete der jüdischen Wissenschaft undsparte nicht mit Talmudkritik. Er untersuchte u.a. das Verhältnis vonJuden und Christen im Mittelalter sowie in der Neuzeit. Er machte neueGebete in der Landessprache zum Mittelpunkt des Gottesdienstes. Nachihm ist ein Kolleg in Potsdam benannt, das Rabbiner für denGemeindedienst ausbildet. (16) Der am 30.03.1895 in Lingenfeld / Pfalz geborene Josef Bürckelwurde Volksschullehrer von Beruf, im März 1926 zum Gauleiter gewähltund später Gauleiter in Wien. Er starb am 28.09.1944 in Neustadt ander Weinstraße durch Selbstmord. (17) Der Südwesten Deutschlands war in Wirklichkeit nicht „judenrein“geworden, da BürgerInnen jüdischen Glaubens, die in einer Mischehe mitArierInnen lebten, von den Transporten zunächst ausgenommen wurden.Ebenso entgingen der Deportation Jüdinnen und Juden, die sichvorübergehend außerhalb Badens, der Pfalz und des Saarlandes befanden.Manche Schwerkranke, die deshalb nicht transportfähig waren, durftenin ihren Wohnungen verbleiben -“unter Hausarrest“. (18) Theresienstadt / Terezin liegt am Eger in der Tschechei, etwa 50Kilometer nördlich von Prag, im damaligen „Protektorat Böhmen undMähren“, in einem Land, dessen Volk nie fanatische Antisemiten waren.Die Stadt war eine sternförmig angelegte Festung und hatte sechs Tore.In diesem Lager wurden nur Juden untergebracht, die sich besondereVerdienste für das Vaterland, etwa Offiziere und Soldaten des ErstenWeltkriegs, erworben hatten. Es sei ein „Paradiesghetto“, sobehaupteten die Nationalsozialisten. Aber Bank, Theater, Kaffee,Ladengeschäfte waren Attrappen. In der Kleinen Festung befanden sichdie Folterkammern der SS-Leute. 141 162 Personen, davon allein 4000Einwohner von Frankfurt am Main, kamen im Lager zu Tode. Am 08.05.1945befreiten Rotarmisten die etwa 17 000 Überlebenden. Vgl. „DieGeschichte der Juden“ von Robert Hess, Otto Maier Verlag, Ravensburg. (19) Regina Jonas hatte pfälzische Wurzeln, ihre Mutter war einegeborene Hess aus Böchingen. Vgl. „Jüdisches Leben in der Pfalz“ vonBernhard Kukatzki, S. 93 sowie den Beitrag: „Gott hat nicht nachunserem Geschlecht gefragt“ von Stefanie Neumeister in „JüdischeZeitung“, Januar 2011. (20) Was diese Arztfrau, die als vornehme Dame der Oberschicht an dieBequemlichkeit eines gehobenen Lebensstils gewohnt war, im langenLageralltag erdulden musste, lässt sich nur schwer vorstellen,geschweige denn mit Worten beschreiben. (21) Der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ist seitJanuar 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zumoffiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismusproklamiert worden. Er soll als „nachdenkliche Stunde inmitten derAlltagsarbeit“ begangen werden. Ort der Speyerer Gedenkveranstaltung„Erinnern, Gedenken, Mahnen“ ist die ehemalige Heilig-Geist-Kirche inder Johannes-Straße 6. Die Feier wird von Schülerinnen und SchülernSpeyerer Schulen gestaltet, und der Oberbürgermeister der Stadtzitiert in deren Verlauf die ersten Artikel des Grundgesetzes. (22) Die Verlegung solcher Stolpersteine mag gut gemeint sein, istjedoch nicht unumstritten. Es gibt dafür Befürworter, die für ihresteigende Tendenz sorgen, und Gegner, die sie ablehnen. Das gilt nichtnur unter Christen, sondern auch unter Bürgern jüdischen Glaubens. Diefrühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland,Charlotte Knobloch, beispielsweise war dagegen. Sie und ihreMitstreiter vertreten nämlich die Meinung, man habe Jahrhunderte langauf die Juden getrampelt, sie wollen nicht, dass es jetzt wiedergeschieht. (23) Freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Schaub aus Wiesbaden vom25.05.2009. 30.10.2011 15. DR. MED. JULIUS ISAK SUSSMANOWITZ Nachfolger von Dr. Reis in Speyer sowie neuer Kollege von Dr. TheodorHirsch (1) und Dr. Willy Taendler (2) wurde Dr. Julius IsakSussmanowitz (3). Er erblickte das Licht der Welt im November 1870 inGorsden, das im fernen, seit 1795 unter russischer Verwaltungstehenden Litauen liegt. Die Namen seiner Eltern sind unbekannt, auchnicht wer sie waren oder woher sie stammten. In diesem baltischen Landlebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 150 000 Juden - mehr alsein Achtel der Gesamtbevölkerung - die weniger unter Verfolgung undGewalt zu leiden hatten als ihre Glaubensgenossen in Russland und derUkraine. Deshalb verfügten sie über berühmte Talmudschulen, dieRabbiner für ganz Russland und für jüdische Gemeinden im Auslandausbildeten. Julius Isak wählte nicht den Rabbiner-, sondern denArztberuf. Da deutsche Ärzte jüdischen Glaubens in Russland Schikanen ausgesetztwaren (4), entschloss sich Dr. Sussmanowitz, das Zarenreich Nikolaus‘II. zu verlassen und in das Kaiserreich Wilhelms II. zu übersiedeln.Dazu veranlassten ihn auch Spannungen zwischen der litauischenNationalbewegung und Russland. Zunächst kam er nach München und am27.07.1900 von dort nach Beerfelden im Odenwald (5), wo er kurze Zeitals Gemeindearzt tätig war. Seit Oktober 1902 war er Arzt in Zeiskam /Pfalz (6), einem landwirtschaftlich geprägten Kleindorf, das heute zurVerbandsgemeinde Bellheim gehört. Dr. Sussmanowitz war nach Aussagen des Zeitzeugen Stephan Scherpf (7)von stattlicher Gestalt. Im Jahre 1906 schloss er in Schwetzingen (8)die Ehe mit der sechzehn Jahre jüngeren Laura, geb. Metzger, die vondort stammte. In Zeiskam wurde ihm im Februar 1908 der Sohn Ernst Maxgeboren. Im März des folgenden Jahres wurde er Vater einer Tochter,die den Namen Edith Sophie erhielt. Im September 1913 zog Dr. Sussmanowitz mit seiner Familie nach Speyer,da in der Domstadt die Arztstelle von Dr. Siegmund Reis frei gewordenwar. Laut einer Zeitungsanzeige (9) wohnte er in der großenGreifengasse 1, Ecke Wormser-Straße, und war dort als praktischer Arzttätig. Er hatte Sprechstunden von 12.00 bis 15.00 Uhr und wartelefonisch erreichbar unter der Nr. 572. Nach einem Leben auf demLande fühlte sich die Familie wohl im zweitausendjährigen Speyer mitseinem städtischen Charakter, wo das offene Land gleich angrenzt. Fürsie galt jetzt die Redewendung: „Stadtluft macht frei!“ Der Zeitzeuge Stephan Scherpf (10) sagte weiter aus, dass derMediziner mit Hausmitteln, also mit Heilpflanzen und Gewürzenarbeitete, deren Kenntnisse er aus der baltischen Heimat mitgebrachthatte. Er wusste genau, dass manche Leute Gewächse für „Unkräuter“halten, die in Wirklichkeit Heilkräuter sind mit besten Wirkstoffengegen Krankheiten aller Art. Darauf vertraute er mehr als auf manchechemische Präparate der Schulmedizin. Er soll auch sehr sozialeingestellt gewesen sein, was wiederum auf seine früheren Erfahrungenmit leidgeprüften Bauern zurückzuführen ist. Bald hatte er sich einen Ruf als „Arbeiterarzt“ erworben, wie ihnseine Tochter und seine Patienten nannten. Auch er nahm als Arzt denKampf gegen zwei Grundübel seiner Zeit auf: die Lungentuberkulose unddie Säuglingssterblichkeit. Diese Krankheiten waren damals mangelsbesserer Medikamente als Aspirin wie Antibiotika und Sulfonamide nochnicht besiegt worden. Sie schonten niemanden, weder die bessergestellten Kreise noch die Arbeiterklasse. Die Säuglingssterblichkeitbetrug 1912 in Deutschland 14,7 auf 100 Lebendgeborene und erreichtegerade in Speyer (11), mit 22,0 eine erschreckend hoheSterblichkeitsrate. Im November 1920 wurde Dr. Sussmanowitz Vatereines zweiten Sohnes: Heinrich Siegmund. Selbst dieser Nachzügler fielnur acht Monate später der erwähnten Kindersterblichkeit zum Opfer.Die Therapie durch den eigenen Vater konnte ihm nicht helfen. DerNeugeborene wurde in der Kinderabteilung des jüdischen Friedhofs ander Südmauer in Speyer beigesetzt. Während des Ersten Weltkrieges von 1914-1918 pflegte Dr. Sussmanowitzals Assistenzarzt, wie Dr. Theodor Hirsch, Dr. Willy Taendler undandere Kollegen die Verwundeten in den Speyerer Lazaretten, deren Zahleher zu- als abnahm. Dafür erhielt er vom Bayerischen Staat im Mai1916 das König-Ludwig-Kreuz auf Kriegsdauer verliehen. Als Wladimir Iljitsch Ulianow, der den politischen Decknamen „Lenin“benutzte, am 07./08.11.1917 in Russland die sogenannteOktoberrevolution einleitete und den Ersten Weltkrieg im Westenbeendete, mag Dr. Sussmanowitz diese Nachricht mit besonderemInteresse aufgenommen haben (12). Er wagte wahrscheinlich, gespannteErwartungen daran zu knüpfen. Doch bald darauf berichteten russischeImmigranten von den Gräueln und Gewalttaten der bolschewistischenRevolution, die viele Menschen in den westlichen Demokratienerschaudern ließen. Die Stadt Speyer soll Dr. Sussmanowitz im Jahre 1927 mit dem Titel„Sanitätsrat“ geehrt haben. Unerwartet erlitt er zwei Jahre später, imAlter von 59 Jahren, einen Herzinfarkt, eine der häufigstenTodesursachen, und musste deshalb die Praxis an einen Nachfolgerweitergeben. Er zog mit seiner Frau Laura zu seinem Sohn Ernst undseiner Tochter Edith nach Heidelberg, die dort beide nach bestandenemAbitur dabei waren, das Fach Medizin zu studieren, zur Freude ihrerEltern. Der Sohn Ernst war in Vaters Fußtapfen getreten und ein überzeugterSozialist geworden. Er konnte noch in Heidelberg zum Doktor derMedizin promovieren. Nach der Machtübernahme durch dieNationalsozialisten im Jahre 1933, gelang dies seiner Schwester, dieKinderärztin werden wollte, nicht mehr. Sie setzte das Medizinstudiumin der Schweiz an der Universität Basel fort, wo sie sich zunächsteinleben musste. Im gleichen Jahr gelang es ihr, in der zweitgrößtenStadt der Schweiz, den Doktorgrad zu erlangen, drei Monate früher alsin der Neckarstadt vorgesehen (13). Dr. Ernst Sussmanowitz emigrierte 1936 in die damalige Sowjetunion,den „sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern“. Zwar schätzte erdie politische Lage nicht richtig ein, aber er war bestrebt, demakuten Ärztemangel in dem riesigen Land abzuhelfen. So wirkte er alsAssistenzarzt in einem Krankenhaus in der Nähe von Simferopol in einerreizvollen Umgebung auf der Halbinsel Krim in der Ukraine (14).Anfangs war er mit Begeisterung bei der Arbeit, die ihn starkbeanspruchte. Schon ein Jahr später fiel er der blutigen „Säuberung“zum Opfer, mit der Lenins Nachfolger, der Diktator JossifDschugaschwili Stalin, alle tatsächlichen und vermeintlichen Gegnernach großen Schauprozessen beseitigte. Selbst höchste Offiziere derUdSSR wie Marschall Michail Tuchatschewskij (15) wurden zum Todeverurteilt. Die Frau von Dr. Ernst Sussmanowitz, die KrankenschwesterIrene, hielt dessen Verhaftung für einen Justizirrtum und wartete einLeben lang auf ihn (16). Solch eine unglückliche Penelope! Obwohl Dr. Isak Sussmanowitz nicht mehr praktizierte, nahm er mitEntsetzen zur Kenntnis, dass die NS-Regierung die Approbationensämtlicher jüdischer Ärzte zum 30.09.1938 für null und nichtig erklärthatte. Das bedeutete für alle Mediziner das Ende ihrerwirtschaftlichen Existenz. Wie war es unter solchen Umständen nochmöglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen? Fünf Wochen späterbrannten in Heidelberg, Speyer und in den meisten deutschen Städtendie Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert,Männer misshandelt und in die Konzentrationslager verschleppt. Frauenund Kinder mussten „endgültig“ den Gau Saarpfalz verlassen, eineAnordnung, die später doch zurückgenommen wurde. Aber die Wohnungender Ausgewiesenen waren bereits im Besitz von fremden Menschen. Bei der Deportation am 22.10.1940 wurden Dr. Sussmanowitz und seineFrau Laura, gemeinsam mit der Frau von Dr. Reis und den HeidelbergerJuden ins Internierungslager Gurs, unweit des Wallfahrtsortes Lourdes,in Südwestfrankreich deportiert. Auf erhöhtem Punkt über demLagereingang wehte die Trikolore. Mit Ausnahme der zwei km langenHauptstraße - „Straße der Tränen“ genannt - gab es in diesem mitStacheldraht umzäunten Camp keine gepflasterten Wege, und dieHäftlinge blieben häufig bei Regenwetter im Schlamm stecken, was beimehreren älteren Menschen den Tod bedeutete. Die Holzbaracken hattenfingerbreiten Fugen, aber keine Deckleisten. Dort kam Dr. Sussmanowitzeinen Monat später auf dem blanken Boden der Baracke liegend umsLeben. Er wurde 70 Jahre alt. Sein Grab auf dem Internierten-Friedhofträgt die Nummer 149 (17) und ist jetzt Ankläger und Warner, dass sichÄhnliches nie mehr ereigne. Seine Frau Laura überstand nur dadurch dieEntbehrungen des Lagers, weil es ihr rechtzeitig glückte, mit Hilfeihrer Tochter die Ausreisepapiere zu erhalten. So durfte sie das Lagerlegal verlassen und zu ihrer Edith nach Schweden emigrieren. Diese Tochter hatte bereits beim Studium in Heidelberg den ungarischenPsychologen Dr. Lajos Székely kennen gelernt und ihn spätergeheiratet. Auf abenteuerlichen Umwegen über tausende von Kilometerndurch die Niederlande, die frühere Sowjetunion, Finnland und Schwedenkamen sie schließlich nach Nacka (18) bei Stockholm. Im Land derWikinger konnten sie in Freiheit und politischer Sicherheit leben,wenn auch zunächst in beengten Verhältnissen. Mit den Jahrenerreichten sie einen gehobenen Lebensstandard. Laura verbrachte nochzwanzig Jahre ihres Lebens und starb 1966 mit 80 Jahren. Ihre Tochtervollendete im März 2011 das 102. Lebensjahr (19). Foto:sk ------------------------------------------ (1) Vgl. Kurzporträt Nr. 14. (2) Vgl. Kurzporträt Nr. 16. (3) Manche Informationen über Dr. Sussmanowitz erhielt der Autor vonder Leiterin des Seniorenbüros Speyer, Ria Krampitz, die den Kontaktmit dessen Tochter, Dr. Edith Székely, aufrecht erhält. (4) Vgl. Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und dieZukunft der deutschen Juden, Verlag des Centralvereins deutscherStaatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 1918. (5) Freundliche Mitteilung des Stadtarchivs Michelstadt. (6) Auskunft des Standesamtes der VerbandsgemeindeverwaltungBellheim vom 27.01.2010. (7) Diese Information verdankt der Verfasser einem Telefongespräch,das er am 25.02.2002 mit Stephan Scherpf aus Speyer führte. (8) Der Ursprung der jüdischen Gemeinde Schwetzingen geht auf Endedes 17./ Anfang des 18. Jahrhunderts zurück. Zu Beginn des 19.Jahrhunderts zogen verstärkt jüdische Familien nach Schwetzingen. Seit1864 diente ein Betsaal in der Invaliden-Straße 6 als Synagogenraum,da sich die kleine Gemeinde eine Synagoge aus finanziellen Gründennicht leisten konnte. Von 1898 an fanden Gottesdienste in einem Raumdes Schlosses statt, ab 1933 wieder in Privathäusern. Mindestens 23Juden sind beim Holocaust ums Leben gekommen. Vgl. „Lexikon derjüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum“ von Klaus-Dieter Alicke,2008 1-3, Gütersloher Verlagshaus. (9) Vgl. die Speierer Zeitung vom 13.09.1913. (10) Vgl. die Anmerkung 7. (11) Vgl. die Speierer Zeitung vom 28.10.1912. (12) Dr. Julius Sussmanowitz war selbst einAltersgenosse Lenins, hatte seine Jugend und damit prägende Jahreseines Lebens im damaligen Russland verbracht und kannte deshalb diedortigen Verhältnisse sehr genau. (13) Vgl. die „Rheinpfalz“, Speyerer Rundschau,vom 18.01.2003. (14) Seit der Antike sind Juden auf der HalbinselKrim bekannt, wie griechische Schriften dies beweisen. Sie genossenweitgehende Autonomie. Jüdische Gemeinden entwickelten sich vor allemin den Kolonien der Genueser zwischen 1260 und 1475. Später war dieKrim Zentrum der Karäer, einer Gruppierung im Judentum, und Stützpunktder Rabbaniten, d.h. der Anhänger der Rabbiner und des Talmuds. In denJahren 1924 bis 1930 scheiterte ein Kolonisierungsprojekt für dieJuden auf der Krim. Es hatte zum Ziel, eine jüdische autonomeSowjetrepublik zu errichten, die aber wegen des nicht ausreichendenGebietes und des Widerstandes der einheimischen Bevölkerung nichtzustande kam. Damals lebten dort ca. 40 000 Juden, was einemProzentsatz von 5,6% der Gesamtbevölkerung entspricht. DieNationalsozialisten verübten während des RusslandfeldzugesMassenmorde, um die Krim für „judenrein“ zu erklären. Nicht wenigeUkrainer leisteten den NS-Einsatzkommandos Handlangerdienste. Vgl.„Neues Lexikon des Judentums“, herausgegeben von Julius H. Schoeps,Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992. (15) Marschall Tuchatschewskij wurde im Zuge derEntstalinisierung rehabilitiert. (16) Vgl. die „Rheinpfalz“, Speyerer Rundschau,vom 18.01.2003. (17) Vgl. die Totenliste des Lagers Gurs,Hauptamt der Stadt Karlsruhe, 17.04.1990. (18) Nacka, eine Stadt von rund 25000 Einwohnern,gehört zum Verband Groß-Stockholm. (19) Vgl. die „Rheinpfalz“, Speyerer Rundschau,vom 25.03.2009. 30.10.2011 14. DR. MED. THEODOR HIRSCH und seine Brüder In Edenkoben, einem Weinstädtchen zu Füßen des Kalmit im LandkreisSüdliche Weinstraße, wo oberhalb des Ortes nur Ruhe, Stille und Friedeherrschen, erblickte Theodor Hirsch (1) das Licht der Welt am06.04.1870. Es fehlten nur vier Monate bis zum Ausbruch desDeutsch-Französischen Krieges, der viel Aufregung, Unruhe undVeränderungen mit sich brachte. Sein Vater hieß Hermann und stammteaus Altdorf / Pfalz, wo er am 04.01.1843 geboren wurde. Seine MutterBarbara, geb. Fried, war am 07.01.1840 in Ingenheim bei Landau, imVolksmund das pfälzische „Klein-Jerusalem“ genannt mit derarchitektonisch interessantesten Synagoge, zur Welt gekommen. Beidewohnten in Edenkoben (2) in guten finanziellen Verhältnissen undermöglichten ihren drei Jungen, Theodor, Salomon, geboren am10.09.1875, und Sigmund, geb. am 05.04.1884, eine vorzüglicheAusbildung (3). Theodor besuchte die Lateinschule in Edenkoben und das Gymnasium inNeustadt an der Haardt. Anschließend studierte er das Fach Medizin anden Universitäten München, Straßburg und Berlin. Die Approbationerhielt er an der Universität Straßburg am 20.07.1894 mit dem Prädikat„Gut“, die Promotion an der Universität Würzburg am 22.05.desfolgenden Jahres. Sein Bruder Salomonfolgte seinem Beispiel undstudierte ebenfalls Medizin. Der Bruder Sigmundhingegen besuchte dasGymnasium in Edenkoben und absolvierte anschließend eine kaufmännischeLehre in Hockenheim mit dem Berufsziel, Zigarrenkaufmann zu werden.Als Vertreter für verschiedene angesehene Firmen sicherte er denLebensunterhalt für seine Familie und für sich. Alle drei Brüder übtenihren Beruf in der Pfalz aus und blieben so der engeren Heimat stetstreu. Nach dem deutschen Sieg über den „Erbfeind“ Frankreich, der Gründungdes Deutschen Reiches bei Aufgabe der Souveränität Bayerns und demGewinn Elsass-Lothringen stand das Militär in hohem Ansehen. Soleistete Dr. Hirsch, 1,70 Meter groß, zunächst seine Dienstzeit alsEinjährig- Freiwilliger in Würzburg. Er betätigte sich alsAssistenz-Arzt II. Klasse von Oktober 1889 bis März 1890 undanschließend als Reservist bis März 1895. Mit Erfolg hatte er amReitunterricht teilgenommen, wie aus den Akten hervorgeht. DerStrafbuch-Auszug beweist, dass er in seiner Dienstzeit stets straflosgeblieben ist. Nach Ansicht seiner Vorgesetzten erwarb er sichvielmehr Verdienste durch schnelle Übersicht der Lage und strenge,aber gerechte Entscheidungen. Auch die Mannschaften erkannten mühelosseine geistigen Fähigkeiten an. Nach der Militärzeit zog Dr. Theodor Hirsch am 01.03.1899 nach Speyer.Er richtete seine Praxis nahe dem Altpörtel in der Karmeliterstraße 1,Tel. Nr. 122, ein, wo er seine Patienten vormittags von 8.00 Uhr bis9.00 Uhr und nachmittags von 12.00 Uhr bis 14.30 Uhr empfing.Außerhalb dieser Sprechstunden machte er Hausbesuche in der Stadt. Aufseinen Dienstfahrten über das Umland benutzte er gerne das Motorrad,das bereits anfing, das Pferd, einst so wertvoll wie ein Reich, zuverdrängen. Als Belegarzt betreute er seine Patienten im St.-Vincentius-Krankenhaus (4). Da waren seine Arbeitskollegen u.a. Dr.Karl Becker, Dr. Karl Thönes, Facharzt für Chirurgie, Dr. Daniel Orth,sowie Dr. Siegmund Reis (5) und Dr. Willy Taendler (6). Er versah auchdas Amt als Leichenbeschauer für das weiße, rote und brauneStadtviertel (7). In seiner Freizeit sang er im traditionsbewussten Gesangverein „DieLiedertafel-Cäcilienverein“ mit. Dort waren seine Sangesbrüder u.a.Isidor und Louis Roos (8). Am 21.03.1900 vermählte er sich in Köln mitder am 07.10.1875 in Iserlohn / Sauerland geborenen Paula, geb.Friede, der Tochter von Moses und Henriette, geb. Adler. Neun Monatespäter, am 19.12.1900, wurde dem Ehepaar in Speyer die TochterMargaretha geboren, ihr einziges Kind. Wie viele andereGlaubensgenossen unterstützte auch Dr. Hirsch mit seiner Frau Pauladurch seine Mitgliedschaft im „Israelitischen Verein für dasAltersheim für die Pfalz“ im Jahre 1909 den Bau dieser Einrichtung inNeustadt an der Haardt, unweit von seinem Geburtsort (9). Einen schweren Doppelschlag musste Dr. Hirsch mit seinen Brüdern imOktober 1911 im Abstand von nur zehn Tagen verkraften. Sein Vaterverstarb am 07.10. in seiner Wohnung und ihm folgte seine Mutter am17.10. rasch hintereinander. Die Lücken, die sie hinterließen,gehörten zu denen, die sich nicht mehr schließen lassen. Viel Furchtund Leid ist ihnen damit auch erspart geblieben. Sie wurden auf demkleinen jüdischen Friedhof in Edenkoben beigesetzt, der ein Teil desGemeindefriedhofs ist. Äußerst selten verläuft sich ein Besucherdorthin. Am 19.12.1912 beging Dr. Theodor Hirschs Tochter Margaretha ihrenzwölften Geburtstag, der sicher in einem entsprechenden Rahmengefeiert wurde. Zugleich wurde sie „Bat Mitzwa“, das heißt Tochter derPflicht, also religionsmündig. Ob deshalb eine religiöse Feier in derSynagoge stattfand, lässt sich nicht mehr ermitteln (10). Mittlerweilehatte Dr. Hirsch seine Praxis und Wohnung von der Karmeliterstraße indie Gilgenstraße 3 verlegt, noch immer im Schatten des Altpörtels,aber in günstigerer Lage. Als der Erste Weltkrieg zwei Jahre später, am 01.08.1914, ausbrach,und viele begeisterte junge Männer zu den Fahnen eilten, in derErwartung, der neue Feldzug sei nur die Fortsetzung des siegreichen1870er Krieges, wurde Dr. Hirsch am 08.04.1915 als Assistenzarzt denLazaretten in Speyer zugeteilt. Am 26.11.1915 wurde er zumköniglich-bayerischen Stabsarzt der Landwehr befördert und am01.08.1916 als Battl. Arzt zum Ersatz Pionier-Batt II versetzt.Kurzfristig wurde er vom 15. bis 20.01.1917 zur Heeresgasschule Berlin(11) kommandiert. Mit besonderem Interesse verfolgte er den Verlauf der Kampfhandlungenan den jeweiligen Fronten. Allerdings entsprachen diese mit Fortdauerdes Krieges und bedingt durch die weit fortgeschrittene Technik - mankann schon von einer Industrialisierung des Tötens sprechen - immerweniger den gehegten Erwartungen, den Frieden zu erzwingen. Noch immer wütete die Furie des Krieges, als die Presse (12) dieNachricht vom Verschwinden Dr. Hirschs verbreitete. Der praktischeArzt wurde seit dem 28.02.1918 vermisst. Nur sein Motorrad wurde amRhein unterhalb der Imprägnier-Anstalt aufgefunden. Seine Praxis bliebverwaist. Kein Wunder also, dass die Gerüchteküche brodelte. Und wiemögen seine Brüder, der Berufskollege Dr. Salomon und Sigmund, sowieseine Arbeitskollegen auf diese erschütternde Nachricht reagierthaben? Tage, ja Wochen vergingen, bis Dr. Hirschs Leiche beiLampertheim in Hessen entdeckt wurde. Die in solchen Fällen zuständigeStaatsanwaltschaft schritt sofort ein. Vorerst war die Ungewissheitüber das Schicksal des Arztes behoben. Was war wirklich geschehen? Aus der Personalakte Dr. Theodor HirschsNr. 33907 geht folgendes hervor: Nach einem an seine Frau Paulagerichteten Brief hatte er sich das Leben genommen. Da seine 17 Jahrejunge Tochter Margaretha schwanger geworden und nach Ansicht ihresVaters zugleich schwer zuckerkrank war, nahm er zur Durchführung einerkünstlichen Frühgeburt einen Eingriff bei ihr vor. Dieser sei infolgeeingetretener Blutungen nötig geworden, wie die Ärzte Dr. Karl Beckerund Dr. Karl Thönes glaubhaft bekundeten. Der Eingriff gelang jedochnicht, und die Überführung der Tochter ins Krankenhaus wurde dringendnotwendig. Der 48-jährige Arzt, der sich fast zwanzig Jahre in unermüdlicherHilfsbereitschaft bei Tag und Nacht in den Dienst der Kranken gestelltund ihre und seiner Kollegen Hochschätzung erworben hatte, wobei erselbst an jodoformischer Synkrasie litt, fürchtete sich vor deröffentlichen Meinung. In einem Anfall tiefer, seelischer Depressionsuchte er, was noch nie in seiner Familie vorgekommen war, den Tod undfand ihn im Rhein. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein,da offenbar von keiner Seite eine strafbare Handlung vorlag. Die Witwe richtete am 01.04.1918 ein Schreiben an das KöniglicheErsatzbataillon des II. Pionier Bataillons, in dem sie ihm mitteilte,dass nach Meinung des Stabsarztes Dr. Karl Becker ihr Mann im Affektgehandelt habe. Sie bat daher die zuständigen Behörden, demVerstorbenen bei der Überführung der Leiche die ihm zustehendenmilitärischen Ehren nicht zu verweigern. Das Militär entsprach der Bitte der von schwerem Schicksal betroffenenFrau. Die Trauerfeier fand am 03.04.1918 unter großer Teilnahme desMilitärs und der Bürger in der Halle des alten Friedhofs statt. Nacheinem Gebet des Kantors der Israelitischen Kultusgemeinde, BennoGrünberg (13), legten Kränze mit ehrenden Worten letzten Gedenkensnieder: das zweite Pionier-Ersatzbataillon, der Ärzteverein, dieLiedertafel, die Sanitätsoffiziere, das Sanitätspersonal. Anschließendwurde die Leiche mit der Bahn nach Köln überführt, wohin die Witwe mitihrer Tochter wieder ziehen wollte. Die in der Presse erschieneneDanksagungsanzeige (14) lautet: „Für die lieben, herzlichen Worte des Trostes und der Teilnahme anlässlich des Ablebens unseres teuren H. Dr. med. Theodor Hirsch sowie für die vielen und schönen Kranzspenden, sprechen wir hiermit unseren tiefgefühlten Dank aus. Die tieftrauernden Hinterbliebenen.“ Sechs Monate später, am 05.10.1918, erbat die Oberste Heeresleitungzum Entsetzen der Deutschen, die durch Propaganda stets auf Siegeingestellt waren, bei den Entente-Mächten die Kapitulation. Es begannmit der Weimarer Republik eine äußerst schwierige Nachkriegszeit, diesich seit der Übernahme der Regierung durch die Nationalsozialisten1933 für die Bürger jüdischen Glaubens dramatisch gestaltete. In Köln wohnte die Witwe Hirsch zuerst in der Rubenstraße 33, dann inHansaring 21. Vom 01.01.1939 an musste sie den Zusatznamen „Sara“tragen. Am 16.06.1942 wurde sie von Köln nach Theresienstadtdeportiert, wo sie am 01.04.1943 verstarb. Was aus ihrer TochterMargaretha wurde, geht aus den Akten nicht mit Sicherheit hervor. Wie im Falle Dr. Theodors ereilte ein ebenso tragischer Tod seinenBruder Sigmund. Er war am 01.10.1919 von Hockenheim nach Haßloch, demgrößten pfälzischen Dorf (15), gezogen. Im folgenden Jahr hatte er am18.07.1920 die sechs Jahre jüngere Anna, geb. Loeb, geheiratet, dievon dort stammte. Im Jahr darauf, am 05.05.1921, erblickte ihr SohnKurt Hermann, ebenfalls in Haßloch, das Licht der Welt. Sigmundbetrieb zusammen mit Max Kuhn eine Zigarrenfabrik in der Langgasse 91,die 1932 geschlossen wurde, weil sie aufgrund der antisemitischenStimmung nicht mehr gut ging. Danach wurde Sigmund Hirsch Vertretereiner Zigarrenkistenfirma. Ein Zeitzeuge sagte nach dem Krieg: „Die Familie Hirsch lebte in Haßloch, hatte in der Kirchgasse 1b eine gut eingerichtete, bürgerliche fünf-Zimmerwohnung und einen sehr guten Ruf. Es hieß allgemein, dass Herr Hirsch gut verdiente;wie viel, ist mir nicht bekannt.“(16) Infolge des Judenboykotts 1933 und der späteren Schikanen vonNS-Rohlingen verringerte sich sein Verdienst so stark, dass es ihmunmöglich war, über die Runden zu kommen. Nach der„Reichskristallnacht“ am 09.11.1938 wurde er und seine Familie miteinem requirierten Lastwagen nach Wiesbaden gebracht, damit Haßloch„Judenfrei“ wurde. Von dort aus versuchte er verzweifelt, dieEmigration zu betreiben. Doch es kam anders. Noch im Jahre 1938 wurde Sigmund in dasKonzentrationslager Buchenwald bei Weimar (17) deportiert, über dessenEingangstor die zynische Aufschrift steht: „JEDEM DAS SEINE“ Am 16.12. des gleichen Jahres wurde er entlassen. Der Ausbruch desZweiten Weltkriegs am 01.09.1939 erstickte wie ein zartes Pflänzchenjede Hoffnung auf ein Einreisevisum in ein freies Land. Zusammen mitseiner Frau Anna wurde er am 10.06.1942 in die polnische Stadt Lublinverschleppt, wo beide wohl im gleichen Zeitraum im VernichtungslagerSobibór (18), Distrikt Lublin, ermordet wurden. Sie waren nur zwei vonzweitausend Menschen, die SS-Wachen dort täglich vergasten wie Kerzen,die am Ende einer Gottesdienstfeier ausgelöscht werden. Gesamtzahljüdischer Opfer 1942 und 1943 aus Polen, Frankreich, Deutschland, denNiederlanden, der damaligen Tschechoslowakei und der Sowjetunion: rund250.000 Menschen. Ihr Sohn Kurt Hermann hatte nach dem Besuch der einklassigenisraelitischen Schule ins Humanistische Gymnasium nach Neustadtgewechselt. 1934 musste er die Schule verlassen und lernte Schreiner.Im Jahre 1939 kam er mit einem der letzten Kindertransporten nachGroßbritannien. Dort verbrachte er unter vielfachen Entbehrungen dieKriegszeit. Nach Kriegsende zog er weiter nach New York, wo er seinespätere Ehefrau kennen lernte, die aus Ober-Ramstadt bei Darmstadtstammte. Gemeinsam lebten sie in Randallstown, unweit Washington, woder Überlebende des Holocaust am 16.08.1996 verstarb. Dr. Theodor Hirschs Bruder, Berufskollege und Sanitätsrat, (19)Salomon Hirsch (20), ein großer, kräftiger Mann, erlebte ein besseresSchicksal. Er war 25-jährig, im November 1900, von Edenkoben nachHaßloch gezogen. Am 08.05.1902 schloss er in der ChemiestadtLudwigshafen die Ehe mit der sechs Jahre jüngeren Paula, geb. Löw, ausHaßloch. Das Ehepaar bekam dort zwei Söhne und gab ihnen typischdeutsche Namen: Hans, geb am 02.03.1904, und Fritz, geb. am20.03.1906. Dr. Salomon Hirsch, oder kürzer und vertrauter „Dr.Sally“, war der erste praktische Arzt in Haßloch. Er hatte seinePraxis mit Wohnung in der Rösselgasse 1, neben dem alten Rathaus, undbesuchte seine Patienten in der Anfangszeit im Einspänner, wobei seinPferd viele Wege von selbst erkannte. Bald gewann Dr. Hirsch Ansehen durch seine Tüchtigkeit. Er wurdevolkstümlich, weil er, wie Dr. Adolf David (21), die Patienten auchdann behandelte, wenn ihre Zahlungsfähigkeit nicht garantiert war. Erwirkte auch als Frauenarzt. Es kam beispielsweise vor, dass Dr. Sallysich nicht nur um die Entbindung kümmerte, wenn eine arme Frau imWochenbett lag, sondern auch um die Versorgung ihrer Familie. Vielesolche Familien haben das „Wochenbettessen“ von ihm bekommen, dasseine Frau Paula persönlich zubereitete. Allein für dieseWohltätigkeit und dieses soziale Engagement hätte Dr. Hirsch nachMeinung der Zeitzeugin Hildegard L. den Verdienstorden mit oder ohneBand verdient (22). Im Jahre 1909 zog Dr. Hirsch für die Mittelstandspartei als ersterjüdischer Gemeinderat ins Rathaus von Haßloch ein. 1913 war erMitbegründer der „Freiwilligen Sanitätskolonne vom Roten Kreuz“ undtrug zu besonderen Anlässen ihre Dienstuniform, wie ein Foto beweist.Kurzum, er war am Ort eine feste Institution. Auch Frauen vonSA-Leuten waren bei ihm in Behandlung. Aber immer deutlicher spürte erdie ansteigende antisemitische Stimmung. Glücklicherweise starb ernoch vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, am27.05.1931, 56-jährig, in einem Ludwigshafener Krankenhaus, vermutlichan inneren Blutungen. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof von Haßlochbestattet, der noch besteht. Die väterliche Praxis führte sein älterer Sohn Hans weiter, der dasheutige Kurfürst-Ruprecht-Gymnasium in Neustadt an der Weinstraßebesucht und nach dem Abitur das Fach Medizin studiert hatte. Er wurdegenauso tüchtig und volkstümlich wie sein Vater, denn es gab keinenUnterschied zwischen dem alten und dem neuen „Dr. Hirsch“, wieEinheimische bezeugen. Aber nach dem Novemberpogrom 1938 mussten er und sein Bruder Fritz,der ebenfalls Mediziner geworden war, im folgenden Jahre auswandern,um ihr Leben zu retten. Sie fragten sich: Aber wohin? Wird es unsgelingen? Da ihnen die Tore der USA verschlossen blieben, weil diegesetzliche Quote schon erfüllt war, fuhren sie schließlich über Genuanach Chile, dem einzigen Land, für das sie noch ein Visum ergatternkonnten (23). Es war dasselbe Land, das auch für die geborene SpeyerinSara Lehmann (24) und ihre Schwester Helene fünf Minuten vor zwölf zumRettungsanker wurde. Das Bürgerliche Gesetzbuch diesessüdamerikanischen Staates von 1885 kannte keinen Unterschied zwischenIn- und Ausländern (25). Drei Brüder, drei verdienstvolle Menschen, drei unterschiedlicheSchicksale. Ihre geliebte Pfalz war um bedeutende Bürger ärmergeworden. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches glichen deutscheGroßstädte einer desolaten Trümmerwüste, und die Überlebenden fandensich in einem in vier Zonen geteilten Land vor, konfrontiert mit demeigenen Elend und dem der Vertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten,der Ungewissheit über das Schicksal der Kriegsgefangenen und derVerantwortung für die von den Nationalsozialisten begangenenVerbrechen an der Menschlichkeit. ---------------------------------- (1) Von Wolfgang Kolb aus Speyer hat der Autor den wertvollen Hinweiserhalten, bei der Recherche über Dr. med. Theodor Hirsch dasBayerische Hauptstaatsarchiv - Kriegsarchiv - zu kontaktieren. DieseEinrichtung in der Münchner Leonrod-Straße verwahrt bei denOffizierspersonalakten den Personalakt von Dr. Theodor Hirsch, der demVerfasser bei der Recherche sehr hilfreich gewesen ist. Dafür sprichter dem Hauptstaatsarchiv seinen innigen Dank aus. (2) Die jüdische Gemeinde Edenkoben weihte 1827 ihre neue Synagoge imklassizistischen Stil feierlich ein. Im Jahre 1846 erfolgte ein Umbaudes Gebäudes. Am 09.11.1938 wurde die Synagoge verwüstet undabgerissen. Dabei schauten zahlreiche Menschen und Schulklassen zu.Die Namen der jüdischen Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg wurden ausdem Ehrenmal heraus gemeißelt. Vgl.“Die Synagogen in der Pfalz von1800 bis heute“ von Otmar Weber, S. 63. (3) Wie aus dem Lebenslauf von Dr. Theodor Hirsch hervorgeht, hatte ernoch einen älteren Bruder und eine Schwester, deren Identitäten jedochnicht ermittelt werden konnten. Vgl. Personalakt Nr. 33907. (4) Dr. Hirsch betreute dort im Jahre 1906 36 Patienten, 1910 waren es33 und im Jahr darauf 24 Patienten. Vgl. „St. Vincentius-KrankenhausSpeyer 1905-2005 von Dr. Karl Heinz Debus unter Mitarbeit von DorisDebus“, S. 69. (5) Vgl. Kurzporträt Nr.10. (6) Vgl. Kurzporträt Nr. 16. (7) Vgl. das Adressbuch der Stadt Speyer 1911. (8) Vgl. Kurzporträt Nr. 8 und Anmerkung 7. (9) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer a. Rhein 1909. (10) Sämtliche Akten der Israelitischen Kultusgemeinde Speyer wurdenbeim Synagogen-Brand am 09.11.1938 mit verbrannt. (11) Das Militär des Deutschen Reichs setzte erstmals im April 1915Giftgas als Kampfstoff ein. Das während der zweiten Ypern-Schlachtverwendete Chlorgas tötete rund 5000 alliierte Soldaten. DieArtillerie schoss Gas im Februar 1916 in Verdun. Zur Abwehr dientenlediglich Schutzmasken. Solche Waffen wurden 1922 (WashingtonerKonferenz) und 1925 (Genfer Gaskrieg-Protokoll) geächtet und imZweiten Weltkrieg nicht eingesetzt. (12) Vgl. die Speierer Zeitung vom 04.03.1918. (13) Benno Grünberg 1885 in Strykow bei Lodz geboren, wurde 1917Kantor der Speyerer Gemeinde. Nach dem Novemberpogrom 1938 verbrachteer mehrere Wochen im KZ Dachau. Im Oktober 1940 wurde er mit Familieund Schwiegermutter nach Gurs deportiert und kam über das KZ Drancynach Auschwitz, in seiner ursprünglichen Heimat zurück, wo er zugrundeging. Seine beiden Kinder, Margit und Heini, retteten sich durchrechtzeitige Auswanderung nach USA. (14) Vgl. die Speierer Zeitung vom 08.04.1918. (15) Vgl. „Synagogen der Pfälzer Juden - Vom Untergang ihrerGotteshäuser und Gemeinden“ von Karl Füchs und „Jüdisches Leben inHaßloch“ von Michael Jäger und Johannes Theisohn. Im Jahre 1722 lebtenin Haßloch drei jüdische Familien. Im Jahre 1875 zählte die jüdischeGemeinde rund 100 Mitglieder und hatte damit den höchsten Stand ihrerEntwicklung erreicht. Seither verringerte sich ihre Zahlkontinuierlich bis sie, 1933, 70 und 1939 zwei Juden zählte. 1935wurde der Judenfriedhof geschändet und die Synagoge 1938 verwüstet.Heute leben in Haßloch keine Juden. (16) Vgl. „Hier wohnte…“ Ein Kunstprojekt von Gunter Demnig -Stolpersteine in Wiesbaden 2005-2008, S.128. (17) Neben Dachau gehörte Buchenwald zu den Stammlagern der SS-Leute.Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden fast 10 000 Juden in diesem Lagernahe Weimar inhaftiert, die von dünner Suppe und etwas Schwarzbrotlebten. Die hygienischen Verhältnisse waren entsetzlich. AmSchlimmsten ging es im Steinbruch, beim Straßenbau oder bei dersogenannten „Gartenarbeit“ zu, die darin bestand, Gräben auszuheben.Von 1937 bis 1945 waren insgesamt 239 000 Menschen dort eingesperrt.Einige Häftlinge starben 1944 bei einem alliierten Bombenangriff aufdas Lager. Amerikanische Truppen befreiten die Überlebenden des LagersAnfang April 1945. (18) Sobibór war ein Vernichtungslager mit Stacheldrahtverhauen,Wachen, Hunden, Scheinwerfern und Schornsteinen. Ein Schild an derRampe sollte den eintreffenden Juden vortäuschen, dort befinde sichein echter Bahnhof. Rundum Wald, Sumpf und Gestrüpp. Erst MitteOktober 1943 wagten dort beschäftigte Häftlinge den Aufstand, tötetenmehrere SS-Männer und flohen in den Wald. Aber nur wenigen gelang es,sich den Partisanen anzuschließen oder eine polnische Bauernfamilie zufinden, die sie versteckte. Lediglich 47 der 365 Entflohenenüberlebten den Krieg. Zwei Tage nach dem Ausbruch wurde das Lagerniedergerissen. Einer der Wachleute war der jetzt 91-jährige UkrainerJohn Demjanjuk, den das Landgericht München am 12.05.2011 als „Iwanden Schrecklichen“ der Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Juden imJahre 1943 schuldig sprach. Die „Endlösung“ ist zwar von denNationalsozialisten beschlossen worden, aber konnte nur mit Hilfe vonTausenden Europäern durchgeführt werden. Vgl. Lea Rosch / EberhardJäckel: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, S. 219. (19) Es war ein Ehrentitel, mit dem bis 1918 im deutschen Kaiserreichverdiente Ärzte ausgezeichnet wurden, im Freistaat Bayern galt derTitel weiterhin. (20) Informationen über die Brüder von Dr. Theodor Hirsch verdankt derAutor dem Standesamt Haßloch, Dr. Elisabeth Schaub aus Wiesbaden undHerrn Albin Berthold aus Mutterstadt. (21) Vgl. Kurzporträt Nr. 4. (22) Vgl. „Jüdisches Leben in Haßloch“ S. 108-109. (23) Dr. Taendlers Bruder Richard war bereits im Oktober 1924 nachChile emigriert. Ihm folgte bald Dr. Taendlers Sohn Adolf nach. Vgl.Kurzporträt Nr. 16. (24) Die 1891 geborene Sara Lehmann erwarb sich in schwierigen Zeiten,von 1919 bis 1933, als Leiterin des Speyerer Wohlfahrtsamtes hoheVerdienste um das Wohl der Stadt. Ihr Bruder Max fiel am 20.11.1914bei Wimy / Frankreich. Von 1917 bis 1939 war sie als Sozialarbeiterinder jüdischen Gemeinde Speyer tätig. In letzter Minute, August 1939,wanderte sie mit ihrer Schwester Helene nach Santiago de Chile aus.Erst 1964 kehrten sie nach Europa zurück und lebten in Straßburg. Saraverstarb am 16.07.1976 und wurde auf dem jüdischen Friedhof inStraßburg-Cronenburg beigesetzt. Die Speyerer LandtagsabgeordneteFriederike Ebli aus Hanhofen hält Sara Lehmann für die Persönlichkeitdes 20. Jahrhunderts. (25) Vgl. „Philo Atlas - Handbuch für die jüdische Auswanderung“,Berlin 1938. 30.10.2011 13. MAXIMILIAN CRAMER Maximilian Cramer (1) entstammte einer alteingesessen SpeyererFamilie, in die er am 19.12.1869 in der Maximilian-Straße 22hineingeboren wurde. Sein Vater war der Textilkaufmann Salomon, undseine Mutter Carolina, geb. Lußheimer, stammte aus Hockenheim. Maxhatte drei Schwestern, Rosalie, geb.1868, Johanna, 1871, und Susanna,1873, sowie den Bruder August, 1875, der nach München zog. Bereits mit16 Jahren verlor Max seine Mutter. Beruflich trat er in die Fußstapfenseines Vaters und seines Großvaters Vitus: Er wurde Kaufmann, was auchsein Nachname ursprünglich bedeutet. Laut Speyerer Gewerbeanmelderegister von 1894-1899 übernahm Maximilianam 15.01.1896 das väterliche Geschäft in der Maximilian-Straße 22. ImJuni des gleichen Jahres heiratete er, nach Aussage der ZeitzeuginMarianne Uhrig (2) ein imposanter Mann, in Frankenthal die kleine,untersetzte und um sechs Jahre jüngere Johanna, geb. Hirsch, die vondort gebürtig war. Aus dieser Verbindung gingen die Söhne Fritz,Jahrgang 1901, und Hans, 1902, sowie die Tochter Gretel, 1914, hervor.Wie die Zeitzeugin weiter berichtete, spielten die Kinder nach derSchule auf dem Königsplatz, nur wenige Schritte von der Wohnungentfernt. Maximilians Vater Salomon, der … „…in weiten Kreisen in- und außerhalb Speyers große Hochachtung genoss und wegen seines Charakters sehr beliebt war“, überlebte seine Frau um 23 Jahre und starb am 19.03. 1908 nahezu68-jährig (3). Im gleichen Jahr ließ Max das väterliche Wohn- undGeschäftshaus in der Maximilianstrasse 22 nach Plänen des ArchitektenReinhold Bräuer umbauen. Das Erdgeschoß wurde modern gestaltet. In dieFassade des Obergeschosses und in Treppenhaus wurden Glasfenster imJugendstil eingesetzt. Die Jahreszahl 1908 steht heute noch in derSchlitzergasse 9 in einer Umrahmung über der Tür, die einst zum Lager,Büro und zur Wohnung führte. Sein Laden verfügte über ein vielfältiges Angebot. Das Sortimentreichte von Herren-, Damen- und Kinderkleidung, über blaueArbeiteranzüge bis zu Gardinen, Vorhängen, Betten und Kissen, sowieHandtüchern und Servietten. Kostenlos stand den Kunden ein separaterFüllraum zur Verfügung zum Füllen und Reinigen neuer und alter Bettenmit der allerneuesten Bettfedern-Dampfreinigungsmaschine. BeiBarzahlung gewährte er einen Rabatt von vier Prozent, auf Wunsch inbar oder in Kassenzetteln. Er gestattete den Umtausch aller Artikel,selbst abgeschnittener Waren (4). Nach Aussage der Zeitzeugin GretaWeinmann (5) blieb auch sein Geschäft an den hohen jüdischenFeiertagen im September / Oktober geschlossen. Ohne Frage war Max die treibende Kraft des Unternehmens. Nach Aussagenvon Frau Weinmann überließ er den Kunden die Ware auch dann, wenndiesen etwas Geld zum erforderlichen Preis fehlte. Oder wenn einePerson den Laden betrat, die einen Trauerfall zu beklagen hatte,spendete er ihr gerne den Stoff für Kleid und Schürze, mit derBemerkung, das sei besser als ein Kranz. Vor der Weihnachtszeit bot erregelmäßig besonders verbilligte Waren an (6), da ihm zufolge in derKleidung sich die Kultur eines Menschen äußert. Sein Sohn Fritz, eine Frohnatur, arbeitete tüchtig im Laden mit undkam bei Personal und Kunden gleichermaßen gut an. Seine Mutter hatteden Watschelgang einer Ente, herrschte unumschränkt im Haushalt, ohnesich im Geschäft einzumischen. Im Jahre 1909 spendete Max demIsraelitischen Verein für das Altersheim für die Pfalz e.V. einenBetrag, um dessen Ziel, ein Altersheim zu bauen, zu unterstützen (7). Im August 1913 fesselte die Passanten am geschmackvoll ausgelegtenSchaufenster des Cramer-Geschäfts ein Ölgemälde in schmuckem Rahmen.Es stellte eine reizvolle Landschaft aus dem Pfälzerwald dar, das DorfHohenecken südwestlich von Kaiserslautern mit der Burgruine aus derZeit der Hohenstaufen. Der in der Domstadt ansässige Malermeister KarlHinkelbein hatte es geschaffen. Wollte Herr Cramer damit nach außenzeigen, dass er nicht nur ein gewiefter Geschäftsmann war, sonderndass er sich mit seiner Familie auch für Natur und Kulturinteressierte? Die Presse (8) berichtete darüber. Im Jahre 1913 wurdeMax als Ersatzmann in den Synagogen-Ausschuss gewählt, und am19.07.1920 wiedergewählt, Zeichen, dass er auch innerhalb derjüdischen Gemeinde Ansehen genoss und maßgeblichen Einfluss ausübte. Als im folgenden Jahr der Erste Weltkrieg ausbrach, eilte auch der44-jährige Max zu der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreichs. SechsMonate später erhielt er als Feldwebelleutnant beim Landsturm aufgrundseiner Verdienste das Bayerische Militärverdienstkreuz I. Klasse mitSchwertern (9). Nach Kriegsende kehrte er wieder heim, aber wie allseine Kameraden als ein Mensch, der den Fluch und die Schrecken desmodernen Krieges zur Genüge kennengelernt hatte. Andere Heimkehrerkamen von schweren Traumata gezeichnet zurück, einzelne verübtenSelbstmord. Nach Aussage der Zeitzeugin Frau Weinmann lud Max eines Tagesungeachtet der Kriegsniederlage seine ehemaligen Kameraden in dieDomstadt ein. Und sie kamen wohlgemut und gut gelaunt aus denverschiedenen Gegenden Deutschlands. Speisen und Getränke, Zigarrenund Gesprächsstoff über Erlebtes im Feld und in der neuen Demokratiewaren im Überfluss bis in die späten Nachtstunden vorhanden. Am Endefiel der Abschied allen Beteiligten nicht leicht. In seiner knapp bemessenen Freizeit war Cramer als Vorsitzender derOrtsgruppe des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ und alsSchriftführer im Industrie- und Handelsgremium tätig, eine Zeit langals Schöffe am Gericht sowie als aktives Mitglied der im Juni 1848gegründeten Speyerer Feuerwehr. Regelmäßig spendete er für die Kinderin der Walderholung, aber er wollte nicht, dass es publik wurde.Seinen Urlaub verlebte er mit der Familie in Frankreich, demwestlichen Nachbarland, dessen Kultur- und Landschaftsreichtum erwährend seines Feldzuges kennen und schätzen gelernt hatte. Es war zurführenden Festlandsmacht geworden und erlangte eine einflussreicheStellung im Völkerbund. Wie aus einer Anzeige in der Presse hervorgeht (10), bot er, gemeinsammit seinen Kollegen Ferdinand Altschüler und Hermann Kaufmann, in der„Weißen Woche“ vom 05.02. bis 20.02.1925, einen Rabatt von zehnProzent auf alle Weißen Waren an, um so der werten Kundschaft in einerwirtschaftlich sehr schwierigen Lage besonders entgegen zu kommen. Einen ersten Schicksalsschlag erlitten die Cramers im folgenden Jahre.Da hielt sich ihr Sohn Hans nach einer kurzen Krankheit inSüdfrankreich zur Erholung im Kreise von Freunden auf, als er sichplötzlich, am 09.05.1926, das Leben nahm (11). Durch dieseerschütternde Nachricht war die Familie zunächst wie gelähmt. FünfTage später wurde Hans in aller Stille auf dem südlichen Feld desjüdischen Friedhofs in Speyer beigesetzt (12). Wieder nach Aussage derZeitzeugin Frau Weinmann trug seine Mutter seither nur noch bodenlangeTrauerkleidung, wie damals vielfach Sitte war. In der Nacht vom 30.06. auf den 01.07.1930 zog das französischeMilitär nach elfeinhalbjähriger Besatzungszeit aus Speyer ab, und diebayerische Schutzpolizei rückte unter dem Jubel der Bevölkerung unddem Glockenschlag der Kirchen ein. Auch das Gemüt einessechzigjährigen Heimkehrers aus dem Ersten Weltkrieg wie Max wurde vonden Wogen der Begeisterung erfasst. Und das erst recht, als derGeneralfeldmarschall und Reichspräsident Paul von Hindenburg - der„Ersatzkaiser - am 19.07. im Rahmen der Befreiungs-Feiern die beflagteDomstadt kurz besuchte. Allerdings ließ Max selbst keinerleiRachegefühle gegenüber den Franzosen in sich aufkommen, die er alsseine Nachbarn betrachtete und schätzte. Als die Nationalsozialisten mit ihrem antisemitischen Parteiprogrammmehr und mehr Anhänger in der Bevölkerung fanden - viele Menschentrieb nackte wirtschaftliche Not zu der Hackenkreuzfahne - machte sichder dekorierte Frontoffizier Max keinerlei Illusionen, erst rechtnicht, als diese im Januar 1933 die Macht ergriffen. Am Tage des„Judenboykotts“, den 01.04. des gleichen Jahres - die Aktion richtetesich u.a. gegen den Absatz jüdischer Waren - musste er machtloszusehen, wie SA-Posten vor seinem Geschäft standen und potentielleKunden einschüchterten. Das „Braune Haus“ lag auf dergegenüberliegenden Seite, Maximilian-Straße 99. Jetzt folgte Schlag auf Schlag: am 06.05.1933, am „Tag der bayrischenJugend“,die „Bücherverbrennung“ auf dem alten Marktplatz von Speyer,dessen Zeuge Cramer wurde. Die „Hitlerjugend“und Jugendverbände warfenauf den Scheiterhaufen unter Ausrufung von „Feuersprüchen“ Schriftenvon Autoren, die den ideologischen Vorstellungen derNationalsozialisten nicht entsprachen. Es waren darunter Bücher vonKurt Tucholsky, Sigmund Freud, Erich Kästner, Carl Zuckmayer, demVerfasser der Komödie „Der Hauptmann von Köpenick“, und von ErichMaria Remarque, dessen Kriegsroman: „Im Westen nichts Neues“ (13), einWelterfolg wurde. Seine geschätzte Gesamtauflage: über 10 Millionen.Vermutlich dachte Max dabei an den Spruch Heinrich Heines: „Wo manBücher verbrennt, verbrennt man bald auch Menschen.“ Welche Bücher dieMitglieder der Familie Cramer lasen, ist unbekannt, da Aufzeichnungendarüber fehlen. Die Weimarer Republik, die erste parlamentarischeDemokratie Deutschlands, lag nach 14 Jahren am Boden. Am 22.02.1934 erhielt Max die traurige Nachricht, dass seine ältesteSchwester Rosalie, 66-jährig in Bad Dürkheim, wo sie seit ihrer Heiratmit dem Weinhändler Markus Jonas lebte, verstorben war. Sein SohnFritz hatte am 29. Juni 1935 in Speyer Liselotte Löb aus Mannheimgeheiratet. Sie war am 04.05.1914 in der Quadratestadt geboren alsTochter von Marcus und Anna, geb. Feibelmann. Sie wurde Hutmacherinvon Beruf. Das neue Ehepaar wohnte in der Landauer-Straße 41. Im Juli 1936 brach in Spanien ein blutiger Bürgerkrieg aus.Revoltierende Truppen des Generals Francisco Franco, die von denAnhängern des Thronanwärters Don Carlos unterstützt wurden, kämpftengegen die republikanische Madrider Regierung, die sich aufsozialistische Gruppen stützte. Da der Kampf einen unbefriedigendenVerlauf nahm, mischten sich Truppen der nationalsozialistischen LegionCondor und des faschistischen Italien auf Francos Seiten ein, aufSeiten der Republikaner zahlreiche Freiwillige aus vielen Nationen,darunter emigrierte Juden. Es war die Generalprobe für den kommendenZweiten Weltkrieg. Wie die Juden in ganz Europa sympathisierte auchMaximilian für die Republikaner. Sie wussten genau, was ein SiegFrancos und Hitlers für die Juden und die freien Völker Europasbedeutete. Erst mit der kampflosen Besetzung Madrids durch FrancosTruppen endete der Bürgerkrieg am 28.03.1939. Zur Rettung seiner Familie entschloss sich Max, konkrete Maßnahmen zuergreifen, ehe es zu spät würde. Als erstem Familienmitgliedermöglichte er seiner Tochter Gretel, einer 22-jährigen schlagfertigenFrau, die die höhere Töchterschule besucht hatte, Ende 1936 nach USAzu emigrieren. USA: Drei Buchstaben, die für sie die Welt derFreiheit, des Fortschritts und des Glücks beinhalteten. Es wurde einAbschied für immer. In New York heiratete sie im Jahre 1939 denisraelitischen Lehrer Jakob Frank aus Frankfurt am Main. Inzwischen hatte Max das Geschäft zwangsweise verkauft und wollte mitseiner Frau Johanna zu der Tochter in die Neue Welt emigrieren. Aberein unvorhergesehenes Ereignis kam dazwischen: er erkrankte an der„Krankheit der alten Männer“ und musste sich im Schicksalsjahr 1938 ineinem Mannheimer Krankenhaus einer Operation unterziehen, die leidermisslang. Er verstarb am 23.05.1938. Seine sterbliche Hülle wurde nachSpeyer überführt und auf dem jüdischen Friedhof im Grab seines SohnesHans beigesetzt. Vier Tage vor dem Novemberpogrom des gleichen Jahres übersiedelteseine Frau Johanna zunächst nach Heidelberg, Goethe-Straße 8, wo siedie Deportation ihrer Leidensgenossen im Oktober 1940 überstand. Siewar wohl im Besitze der Auswanderungspapiere und emigrierte planmäßig1941 zu ihrer Tochter nach New York. Dort starb sie 1965 im Alter von90 Jahren. Im Gefolge des Novemberpogroms blieben auch Fritz die Schrecken desKonzentrationslagers Dachau nicht erspart: Schikanen, Demütigungen,Misshandlungen, nicht selten der Tod. Vier Wochen nach seinerEntlassung emigrierte er gemeinsam mit seiner Frau Liselotte schwerenHerzens nach Buenos Aires / Argentinien, wo nach den USA mit 270 000Juden die zweitstärkste jüdische Weltbevölkerung lebte (14). Nur untergroßen Anstrengungen gelang es ihm und seiner Frau, sich dort eineneue Existenz aufzubauen. Sie vermochten nicht, sich an die neuenVerhältnisse anzupassen. Das Heimweh nach der fernen deutschen Heimat,die ihnen soviel bedeutet hatte, blieb, wie im Fall von HermannSinsheimer (15). Am 22.06.1941 fielen deutsche Armeen in die Sowjetunion, mit der dasDritte Reich einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte, ein, ohneKriegserklärung. Ein halbes Jahr später, am 11.12.1941, erklärte dieAchse Berlin-Rom den Vereinigten Staaten von Nordamerika den Krieg.Damit trat die von der Zivilbevölkerung aller kriegführenden Länderlängst erwartete Wende des mörderischen Ringens ein. Nach Kriegsende kam Fritz mit seiner Frau Liselotte wieder in die alteWelt und nach dem vertrauten Speyer zurück. Er wollte finanzielleAnsprüche wegen der „Arisierung“ geltend machen und die aktuelleSituation ausloten. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ihn seineSchritte zu seinem früheren Geschäft führten und dass er einen Blickin den Innenraum warf, sich fragend: Soll ich mich auf ein Wagniseinlassen und ein Geschäft in vierter Generation eröffnen? Würden sichdie alten Kunden wieder trauen, den Weg zu meinem neuen Laden zugehen? Oder ist die Zeit dafür doch noch nicht reif genug? Er tat esnicht. Und da klafft eine riesige Lücke in der Vita dieses Ehepaars.Was es in den folgenden drei Jahrzehnten unternahm oder nicht, lässtsich nicht belegen, weil Dokumente darüber fehlen. Höchstwahrscheinlich aus Gesundheitsgründen übersiedelten Fritz undseine Frau, etwa um 1978, nach Bad Kissingen (16) im bayerischenUnterfranken. Er wird im Kurgarten kurze Zeit geschlendert haben, bisihn der Tod am 23.04.1982, im Alter von 81 Jahren, ereilte. Seine Frauverstarb siebzehn Jahre später, am 30.01.1999, ebendort. Beide liegenauf dem dortigen jüdischen Friedhof bestattet. Wer ein Foto des Anwesens Maximilian-Straße 22 aus den 20er Jahren desvorigen Jahrhunderts mit seinem jetzigen Aussehen vergleicht, demfällt auf den ersten Blick auf, wie wenig es sich im Grunde veränderthat. Und wenn er das Gebäude von der Schlitzergasse aus betritt unddas alte Holzgeländer im steilen Treppenhaus mit Jugendstil-Glasfenstern betrachtet, dann könnte er sich mühelos in die vergangeneZeit zurückversetzen, als wäre sie wie eine alte Uhr buchstäblichstehen geblieben. Als erklänge jeden Augenblick Frau Cramers Stimme,die von der Wohnungstür herunterruft: „Fritz, komm mal hoch!“. (1) Dieses Kurzporträt veröffentlichte der Autor erstmals in gekürzterFassung als Zeitungsartikel in der „Rheinpfalz“, Speyerer Rundschau,vom 22.02.2001. Der Name Maximilian ist lateinischen Ursprungs undbedeutet „der ganz große Nacheiferer“. Er wurde bekannt durch KaiserMaximilian I, genannt „der letzte Ritter“. Er verkündete im Jahre 1495den Ewigen Landfrieden und setzte in Speyer das Reichskammergerichtein. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die volle Namensform von derKurzform Max zurückgedrängt. (2) Diese Information erhielt der Verfasser von der ZeitzeuginMarianna Uhrig in einem Gespräch am 07.06.2001. (3) Vgl. die Speierer Zeitung vom 20.03.1908. (4) Ebenda vom 23.07.1910. (5) Sie war eine ehemalige Verkäuferin im Cramers Geschäft undlieferte dem Verfasser in einem Gespräch am 04.12.2000 interessanteInformationen über Familie Cramer. (6) Vgl. den Speyerer Anzeiger vom 10.09.1874. (7) Vgl. die Speierer Zeitung vom 06.12.1913. (8) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer am Rhein, 1909. (9) Vgl. die Speierer Zeitung vom 24.08.1913. (10) Ebenda vom 03.02.1925. (11) Gretel bestätigte dem Autor die Information über den Freitodihres Bruders Hans in einem Brief vom 27.08.2001. (12) Vgl. die Speierer Zeitung vom 12.05.1926. (13) Der Buchtitel hatte als Zusatz: „Remarques Buch ist das Denkmalunseres unbekannten Soldaten. Von allen Toten geschrieben“. DessenOscar-prämierte Verfilmung wurde am 11.12.1930 in Deutschlandverboten, weil man befürchtete, die Ausstrahlung würde das Ansehen desDeutschen Reichs in der Welt untergraben. (14) Vgl. „Philo Atlas, Handbuch für die jüdische Auswanderung“ 1938,S. 12. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933emigrierten 30 000 bis 40 000 Juden in dieses südamerikanische Land,wo der jüdische Einfluss auf Literatur, Theater und Musikleben vongroßer Bedeutung ist. Sehr viele lebten konzentriert auf den GroßraumBuenos Aires. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches flüchtetenrund 2000 ehemalige Nazi-Größen über das Transitland Italien (Genua)ins Land des Diktators Juan Perón. Dazu gehörten u.a. der „Todesengel“Dr. Josef Mengele, der SS-Offizier Erich Priebke und Adolf Eichmann.Der ehemalige SS-Obersturmbannführer und Leiter des Referats IV D 4 imReichssicherheitshauptamt für die Deportation und Ermordung dereuropäischen Juden lebte seit 1950 unauffällig unter dem Namen RicardoKlement in San Fernando bei Buenos Aires. Er sah sich als Versager,weil er geholfen hatte, statt 10,3 Millionen Juden nur rund sechsMillionen zu vernichten. Am 11.05.1960 spürte ihn der israelischeAuslandsgeheimdienst Mossad auf und überführte ihn nach Jerusalem.Dort wurde er nach einem Prozess 1961 zum Tode verurteilt und 1962erhängt. Bis zum Ende zeigte er keinerlei Reue. Die Bedeutung desProzesses lag darin, dass er die Israelis mit dem Holocaust verband. (15) Der Jurist, Schriftsteller und Theaterkritiker Hermann Sinsheimerwurde am 06.03.1883 in Freinsheim / Pfalz geboren. Er übernahm 1924die Chefredaktion der satirischen Zeitschrift „Simplicissimus“ undgenoss Geltung und Ansehen im deutschen Kulturleben bis 1933. Imenglischen Exil vermisste er seine deutsche Heimat sehr. Er starb am29.08.1950 in London. Sein Bruder Ludwig, Jahrgang 1873, starb 1942 imLager Noé an den Folgen der Gefangenschaft, seine Schwester Eugenie,1879 geboren, wurde im gleichen Jahr in Theresienstadt ermordet.Freinsheim hat sie nicht vergessen. (16) Mitte des 17. Jahrhunderts lebten 163 Juden in (Bad) Kissingen.Im Jahre 1705 baute die jüdische Gemeinde ein Bet- und Schulhaus.1850/51 errichtete sie eine Synagoge, die bis 1927/28 der Gemeindediente, als das Gebäude wegen Straßenbaumaßnahmen abgerissen wurde.Bereits im Sommer 1902 war die neue Synagoge im neoromanischen Stilentstanden. Sie spiegelte das gewachsene Selbstbewusstsein der damalsüber 300 Mitglieder zählenden Gemeinde wider. Dazu trugen dieHeilbäder bei, die von Juden aus dem Inn- und Ausland aufgesuchtwurden. Bad Kissingen war Sitz des Bezirksrabbinats und Mittelpunkt imnördlichen Unterfranken. Da aber der Kurbetrieb ab 1925 einenAbschwung verzeichnete, ging auch die Zahl der rund 500 Juden selbstzurück. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933besiegelte den Untergang der Gemeinde und ihrer Einrichtungen. Nach1945 wurde das alte Bethaus wieder seiner ursprünglichen Bestimmungübergeben. Vgl. Baruch Z. Ophir / Falk Wiesemann: „Die jüdischenGemeinden in Bayern 1918-1945 Geschichte und Zerstörung“, S. 262. 30.10.2011 12. HERMANN HIRSCH Hermann Hirsch erblickte das Licht der Welt am 22.11.1865 inObergimpern, jetzt Bad Rappenau, im hügeligen Kraichgau, wo um 1840ca. 110 Bürger jüdischen Glaubens lebten. Sein Vater war Lemle,Kaufmann von Beruf, und seine Mutter hieß Mathilde, geb. Hirsch. DerName Hirsch (1) kommt deshalb häufig bei deutschen Bürgern jüdischenGlaubens vor, weil er auf den „Jakobsegen“ in der hebräischen Bibelzurückgeht (2). Dieser Patriarch hatte ihn, als er im Sterben lag,seinen zwölf Söhnen als Vertretern der zwölf Stämme Israels erteilt.Dabei sparte er auch nicht mit Flüchen und Vergleichen. So verglich erNaftali mit einer Hirschkuh wegen dessen gefälliger Rede. Hirsch kommtauch als Vorname vor, zum Beispiel Hirsch Hildesheimer (3). Nach Schulbesuch, Berufsausbildung zum Textilkaufmann undMilitärdienst - sein Vorname heißt ja „Mann des Heeres“ - zog Hermann1895 nach Speyer mit vielen Plänen und noch mehr Hoffnungen. In derMaximilian-Straße 14 gründete er ein Spezialgeschäft für Herren- undKnaben-Kleidung sowie Modeartikel. Am 24.02.1896 heiratete er in derNeckarstadt Heidelberg die um zehn Jahre jüngere Sofie, geb.Durlacher, aus der Fächerstadt Karlsruhe, und versprach ihr unter der„Chuppa“ (4) ewige Treue. Ihre Eltern waren der Textilkaufmann Juliusund Luise, geb. Schweitzer. Vier Tage später eröffnete er dasGeschäft. Er hatte die Vertretung der 1889 in Stuttgart von „WilhelmBleyle“ gegründeten Firma für Strickbekleidung wie Hosen undMatrosenjacken übernommen, die man später in der Fabrik anstrickenlassen konnte. Er verfügte über eine eigene Schneiderei und warMitglied des Speyerer Rabattsparvereins [Blaue Marken mit dem SpeyererStadtwappen] (5). Telefon-Nummer 217. Voller Stolz feierte das Ehepaar Hirsch am 17.05.1897 die Geburt desStammhalters Josef Friedrich. Es war das Jahr, als in Basel der ErsteZionistenkongress gehalten wurde. Am 24.05. des folgenden Jahreserblickte sein Bruder Heinrich Wilhelm das Licht der Welt, zwei Monatebevor Bismark, der „Eiserne Kanzler“, in Friedrichsruh verstarb. Hinzukam am 06.08.1899 ein Mädchen zur Welt, als Rainer Maria Rilke dieBallade „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“dichtete. Das Baby erhielt den Namen Mathilde nach Hermanns Mutter.Den Reigen schloss Hugo Ernst Otto am 23.05.1901, vier Monate nachdemdie Königin Victoria von England die Bühne der Welt verlassen hatte. Die Philosophie der Firma Hirsch lautete: „Nicht der Preis, sonderndie Qualität ist Beweis für günstigen Kauf und bleibenden Wert“. Sievermochte die Kunden zu überzeugen. Sie schätzten die zuvorkommendeBedienung, die reiche Auswahl und die günstigen Preise. Für Kinderhielt Hermann immer ein kleines Geschenk bereit: das„Bleyle-Kinderbuch“. Bei gelegentlich auftauchenden Problemen war derGeschäftsmann für seine Kulanz bekannt. Zwar hielt er sich vomöffentlichen Leben fern, aber Armen und Notleidenden gegenüber zeigteer sich stets hilfsbereit, ungeachtet der Religion, Konfession oderEinstellung, wie das hebräische Gebot der „Zedaka“ vorschreibt. Dassoll nicht aus Mitleid geschehen, sondern um den Armen zu ihrem Rechtzu verhelfen. Auf diese Einstellung Hermanns machte später die Presse(6) in ihrem ihm gewidmeten Nachruf aufmerksam. Wie aus einer Anzeige in der Presse (7) hervorgeht, veranlasste dierasch wechselnde Mode in der Herrenbekleidung - maßgebend war immerder „dernier cri“, die neueste Mode! - Herrn Hirsch dazu, die Ware füreine festgelegte Zeitspanne zu reduzieren. So bot er ca. 150Herrenanzüge in drei Serien zum Preis von 15,--, 20,-- und 25,-- Markan. Die Anzüge waren alle aus guten Stoffen gearbeitet und hattenteilweise den doppelten Wert. Ein großer Posten Knabenanzüge wurdeauch aussortiert; sie lagen auf extra Tischen zu 3,50 und 5,50 Mark. Damals stand die Kopfbedeckung als sichtbarer Ausdruck vonIndividualität und Lebensgefühl hoch im Kurs. Schließlich, „Ein Huttut einfach gut“. Daher pries er in einer am folgenden Tagerschienenen Anzeige Herrenhüte nicht nur aus englischer (Johnston,Perkins, Benson und Scotson), sondern auch aus deutscher (Mayser), unditalienischer Produktion (Borsalino und Ronco Fratelli) zu äußerstbilligen Preisen an (8). Im Jahre 1909 spendete Hermann dem Israelitischen Verein für dasAltersheim für die Pfalz e.V. einen Betrag, um dessen löblichesVorhaben, eine Bleibe für ältere Menschen zu errichten, nach Kräftenzu unterstützen (9). Durch seine kaufmännische Tüchtigkeit und seine gewandtenUmgangsformen gelang es Hermann Ende Januar 1913 (10) das Geschäft indie Maximilianstrasse 31, Tel.-Nr. 367, zu verlegen, dessen Lage erfür noch vorteilhafter hielt. Die Kunden blieben ihm treu, weil siewussten, gute Kleidung hebt die Stimmung, gibt Sicherheit und damitSelbstvertrauen und öffnet viele Türen. Und es fällt einem nichtschwer, sich den Geschäftsinhaber vorzustellen, wie er ihnen mitfreundlichem Gesicht und bestens gekleidet entgegeneilte, ohne jedochaufdringlich zu wirken. Als am 01.08.1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, hielt es FriedrichJosef als ältester Sohn der Familie für seine selbstverständlichePflicht, dem Deutschen Reich mit der Waffe zu dienen. Sein Vater hatteja auch schon „gedient“. Er meldete sich freiwillig zum Fronteinsatzund wurde als Kanonier im 2. Bayerischen Feldartillerie-Regiment 5eingesetzt, von Anfang an. Wenn seine christlichen Kameraden bereitwaren Schulter an Schulter, auf christliche Franzosen oder Russen zuschießen, so tat er es auch auf jüdische „Feinde“ nach der eisernenLogik des Krieges. Das tat er über zwei Jahre bis „Schnitter Tod“ ihnam 18.04.1917 im treuesten Ausharren auf Beobachtungsposten mähte. Erwar Inhaber des König-Ludwig-Kreuzes und hatte das 20. Lebensjahr nochnicht vollendet (11). Von der Front aus hatte er, so gut es eben ging, Feldpost nach Hausegeschickt, so dass seine Lieben über das dortige grauenvolle Geschehenunterrichtet waren. Seine Eltern und Geschwister bangten täglich umihn, und sein Tod erschütterte sie alle zutiefst, ohne Zuspruch findenzu können. Er war ja nur einer von Hunderttausenden. Daher läutetenauch keine Totenglocken und die Fahnen an öffentlichen Gebäuden wurdennicht auf halbmast gesetzt. Nach Aussage der Zeitzeugin Erika Habeck (12) hatte Hermann währenddes Krieges in der nahen Kleinen Sämergasse eine Ziege, deren Milch erbedürftigen Kindern und alten Menschen gerne und regelmäßig spendete.Mit dem Kriegsende hörten die Einschränkungen in allen Lebensbereichennicht auf, sondern die politische und wirtschaftliche Lage verschärftesich zunehmend aufgrund des Versailler Friedensvertrages (13). Dieseheiß umstrittene Übereinkunft sah beispielsweise nicht nur den Verlustvon Elsass-Lothringen und des Saargebietes bis 1935 sowie Posens undWestpreußens vor, sondern auch Reparationszahlungen in ungebührlicherHöhe, die das Deutsche Reich gegenüber den Siegermächten der Ententeüber Jahrzehnte hinaus leisten musste. Am 19.01.1921 starb Hermanns Schwiegermutter Luise im Alter von 74Jahren, die vermutlich nach dem Tode ihres Mannes Julius zu ihrerTochter Sofie nach Speyer gezogen war. Sie wurde auf dem jüdischenFriedhof in der Domstadt bestattet. Sein Sohn Heinrich Wilhelm übersiedelte im März des gleichen Jahresnach dem turbulenten Berlin, in der Hoffnung, in der Hauptstadt derWeimarer Republik bessere Aufstiegschancen zu haben. Oder verstand ersich nicht mit seinen Eltern und Geschwistern? Hatte Hermann mit ihmTacheles geredet? Oder er protestierte damit wie ein „Wandervogel“gegen den Untertanengeist seiner Vatergeneration, um sein Leben nacheigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innererWahrhaftigkeit gestalten zu können? Im folgenden Monat, am 07.04.1921, gab es im Hause Hermann Hirsch einfreudiges Ereignis: Die Hochzeit der Tochter Mathilde, gen. Thilde,mit dem Kaufmann Otto Thanhauser aus Koblenz. Es sollte die einzigeEheschließung bleiben, die Hermann miterlebte, und sie bedeutetezugleich seine Trennung von der Tochter, denn sie zog anschließend vomRhein, dem „deutschesten aller Flüsse“ in die Bodensee-Stadt Konstanz(14) am Schwäbischen Meer, die neue Heimat ihres Mannes. Das Jahr 1923 darf als das schlimmste Jahr für die deutsche Wirtschaftnach der Kriegsniederlage bezeichnet werden. Durch die Inflationverloren Millionen Menschen ihre Ersparnisse und mussten von PunktNull neu anfangen. Die Flucht in die Sachwerte hatte begonnen undtrieb merkwürdige Blüten. Die Weimarer Republik war praktischbankrott, nur niemand wagte, das einzugestehen. Es herrschte insgesamtein großes Chaos, bis die Inflation durch die Einführung derRentenmark als Zwischenwährung im November 1923 beendet wurde. 1924trat die Reichsmarkwährung in Kraft. Gerade war Hermann dabei, dieser neuen Herausforderung Herr zu werden,als er plötzlich schwer erkrankte. Es gab für ihn zum Leidwesen seinerFamilie keinerlei Hoffnung. Er verstarb nach einem arbeitsreichenLeben unerwartet am 18.06.1926 im 61. Lebensjahr, zwei Monate und zehnTage vor dem Sterbefall von Sigmund Mayer (15). Damals wurde dieMaximilian-Straße als so genannte „Notstandsarbeit“ kanalisiert (16).Seinem Wunsch entsprechend wurde dieser „angesehener Kaufmann, der bei der hiesigen Einwohnerschaft in hohem Ansehen stand“(17) auf dem südlichen Feld in der dritten Reihe des jüdischen Friedhofs ander Wormser Landstraße bestattet. In aller Stille. Nur einen Monatdavor, am 07.05., hatte der Reichstagsabgeordnete und Verleger, EugenJäger (18), in seinem Haus, Maximilian-Straße 81, seine Augen fürimmer geschlossen. Hermanns Sohn und Prokurist, Ernst Otto, führte dasGeschäft in eine unsichere Zukunft weiter. Bestrebt, das Lebenswerk seines Vaters in würdiger Weise fortzusetzen,verfuhr Ernst Otto nach folgendem Geschäftsgrundsatz: „KeinKleidungsstück abzuliefern, das nach Fertigstellung aus irgend einemGrund nicht den Beifall des Abnehmers finden sollte“ (19). In einerZeitungsanzeige (20) warb er mit folgenden Worten: „Auf die Hosen kommt es an! Kauft den Schuljungen BLEYLE-HOSEN .Sie sind gut, preiswürdig und werden in der Fabrik stets unsichtbar repariert, in allen Farben und Größen vorrätig bei HERMANN HIRSCH, SPEIER“. Er war ein Mann mit schwarzem, krausem Haar und schloss am 30.01.1930- auf den Tag genau drei Jahre vor Beginn der Nazi-Diktatur - inSpeyer den Bund der Ehe mit der um neun Jahre jüngeren Lilli Karoline,geb. Kaufmann. Sie war die einzige Tochter von Hermann Kaufmann, derin der Maximilian-Straße 25, nur wenige Häuser entfernt, einDamenkleidergeschäft betrieb. Als Trauzeugen traten auf: HermannKaufmann (21), Vater der Braut und Max Herz (22), Nachbarn desBräutigams. Die Trauung fand in der Synagoge statt und dieHochzeitsfeier gestaltete sich nach Zeitzeugenaussagen zu einemGroßereignis auf der damals noch mit Kopfsteinpflaster belegtenHauptstraße. Die Musikkapelle kam durch das Altpörtel, derGesangverein brachte vor der Wohnung der Braut ein Ständchen und vieleMenschen strömten zusammen. Alle wollten den frisch Vermähltenpersönlich gratulierten. Fünf Monate später, am 01.07.1930, zog die französische Besatzung abund die bayerische Polizei ein - die Befreiungs-Feier auf derMaximilian-Straße dauerte die ganze Nacht - und die wirtschaftlicheLage besserte sich allmählich. Aber die politischen Verhältnissefingen gerade für die Bürger jüdischen Glaubens an, immer kritischerzu werden. Im letzten Freiheitsjahr, am 16.02.1932, brachte LilliHirsch im Stiftungskrankenhaus in Speyer ihr erstes Kind, Marliese,zur Welt. Mit dem 30.01.1933, dem Tag der Ernennung Adolf Hitlers zumReichskanzler, änderte sich die Lage schlagartig. SA-, SS- undWehrmachtsuniformen sowie Hitler-Jugend Kluften, Tellerkappen undStiefel hatten jetzt Hochkonjunktur. Nach wie vor boten dieNationalsozialisten in ihrer Propaganda nur ein Zerrbild derTätigkeiten jüdischer Geschäftsleute wie bei Karnevalsumzügen, undalles Jüdische war ab sofort verpönt. Wer die Möglichkeit hatte, überVerwandte und Bekannte im Ausland ein „Affidavit“, eine Bescheinigungan Eides Statt, zu erhalten, und noch ein Quäntchen Glück dazu, begannseine „Auswanderung“ zu betreiben. Sie kostete die„Reichsfluchtsteuer“ (23) und öffnete den Weg in eine unsichereZukunft irgendwo in der Welt. Lilli Hirsch durfte ihr zweites Kind nicht mehr in ihrer VaterstadtSpeyer zur Welt bringen, sondern mit Hilfe von Beziehungen, am30.08.1935, in einem Krankenhaus in Karlsruhe. Es war wieder einMädchen und erhielt den biblischen Namen Mirjam Evelyn. Die Aufregungdavor und die Erleichterung der zweifachen Mutter und ihrerAngehörigen danach waren riesig und begreiflich. Die Zeit drängte. Imfolgenden Jahr, am 15.08.1936, meldete Hugo Ernst Otto Hirsch seineMutter Sofie und seine Familie aus Speyer ab. Nach einer wochenlangenDampferfahrt auf schwankendem Boden betraten sie in Los Angeles, im„Golden State“ Kalifornien am Stillen Ozean, das rettende UferAmerikas (24). Hermanns Tochter Mathilde war es auch vergönnt, mit ihrem Mann OttoThanhauser (25) und den beiden bereits verheirateten Töchtern IngeBernheim und Ellen Greif dem Terror des Tausendjährigem Reiches zuentkommen und ebenfalls Los Angeles zu erreichen. Dort fingen sie, wiealle Immigranten unter völlig anderen Lebensbedingungen, mühsam an,eine neue Existenz aufzubauen. Keine neue Erfahrung im Leben einesMenschen jüdischen Glaubens in den zweitausend Jahren der Diaspora(26). ------------------------------ (1) Vgl. Kurzporträt Nr. 14. (2) Vgl. Genesis, Kapitel 49, Verse 3-27: Der Segen Jakobs. Es handeltsich aber eher um Weissagungen, wie der erste Vers zeigt. Vom Hirschfühlten sich schon die Menschen der Altsteinzeit beeindruckt, den siein ihren Höhlen darstellten. Mehrmals wird er in der Bibel erwähnt,z.B. im Psalm 42, Vers 2, wo der Durst des Hirschs nach Wasserverglichen wird mit der Sehnsucht des Menschen nach Gott. MehrereGaststätten sind nach diesem Tier benannt. (3) Hirsch Hildesheimer erblickte das Licht der Welt am 02.02.1855 imGhetto von Eisenstadt als Sohn des Rabbiners Esriel und dessen FrauHenriette, geb. Hirsch. Er promovierte 1879 in Leipzig zum Dr. derPhilosophie mit einer Arbeit über „Sextus Aurelius Victor: De virisillustribus urbis Romae“. Im folgenden Jahr heiratete er seine CousineRöschen, geb. Hirsch. Gleichzeitig begann er seine Tätigkeit alsDozent für jüdische Geschichte und Geographie Palästinas am BerlinerRabbiner-Seminar. Im Jahre 1883 übernahm er die Redaktion der„Jüdischen Presse“ und kämpfte 30 Jahre lang -28 Jahrgänge- für diejüdische Sache, vor allem um die Berechtigung des jüdischen Schächtensder Tiere. Daneben setzte er sich engagiert ein in vielen Vereinen,etwa im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, derdie Synthese zwischen Deutschtum und Judentum erstrebte. Ein früheinsetzender Verkalkungsprozess infolge eines erlittenen Unfallsraffte ihn, am 05.12.1910, in Berlin hinweg, nur elf Jahre nach demTode seines ebenfalls angesehenen Vaters. (4) Unter einem von vier Stangen getragenen Baldachin, hebr. Chuppa,findet die Trauung religiöser Juden statt in Ausrichtung auf Jerusalembzw. den Tempel. Es ist das Sinnbild für das Heim des neuen Ehepaares.Die Trauung ist ein Freudenfest für die ganze Gemeinde, der unterbestimmten Voraussetzungen auch die Scheidung erlaubt ist. (5) Vgl. die Speierer Zeitung vom 29.07.1912. Dem SpeiererRabattsparverein e.V. waren 130 Geschäfte angeschlossen. Die mitdiesen blauen Marken beklebten Sparbücher wurden bei der SpeyererVolksbank eingelöst. (6) Ebenda vom 19.06.1926. (7) Ebenda vom 08.04.1908. (8) Ebenda vom 09.04.1908. (9) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer am Rhein, 1909. (10) Vgl. Gewerbeanmelderegister vom 28.01.1913. (11) Vgl. die „Speierer Zeitung“ vom 23.04.1917. Wenn jährlich amVolkstrauertag, den 2. Sonntag vor dem 1. Advent, auf dem SpeyererFriedhof der Opfer des Nationalsozialismus und der Gefallenen beiderWeltkriege mit Worten des Gedenkens und Kranzniederlegungen gedachtwird, legt man auch auf dem jüdischen Friedhof an der Südseite derGrabanlage, wo jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs ruhen, die inSpeyerer Lazaretten starben, einen Kranz nieder. (12) Sie war Besitzerin der Kaffee-Konditorei Ebert in derMaximilian-Straße 28 und schrieb um 1996 ihre „Erinnerungen anSpeyerer Juden“ - 13 DIN A4 Seiten - nieder, die sie dem Autor zurweiteren Verwendung überließ. (13) Der Versailler Vertrag rechtfertigte die Reparationen mit demArtikel 231, der Deutschland die Schuld am Ausbruch des Kriegeszuwies. Aber er war auch im Lager der Alliierten und AssoziiertenGegenstand der Kritik. In Deutschland erreichte derReichsaußenminister Gustav Stresemann durch seineVerständigungspolitik Frankreich gegenüber eine gewisse Milderungseiner Bedingungen. Der Mann auf der Straße bezeichnete den Vertragals ein Machwerk von Dummköpfen und Lumpen. Der Kampf gegen ihnbildete den wichtigsten Bestandteil nationalsozialistischerPropaganda. (14) In der Reichsstadt Konstanz lebten Juden seit der ersten Hälftedes 13. Jahrhunderts. Im Zuge der Pestverfolgung wurde die Gemeinde am03.03.1349 nahezu ausgelöscht. Seit 1375 entstand eine neue Gemeinde,deren Mitglieder infolge einer Ritualmordbeschuldigung 1448ausgewiesen wurden. Aber sie kehrten um die Mitte des 19. Jahrhundertswieder zurück. (15) Vgl. Kurzportträt von Sigmund Mayer Nr. 5. (16) Sein Geschäft ist in der Dokumentation „Speyer - anno dazumal,100 Jahre Speyerer Stadtgeschichte zwischen 1854 und 1954“ abgebildet,S. 136. (17) Vgl. Nachruf in der „Speierer Zeitung“ vom 19.06.1926. (18) Der 1842 geborene Eugen Jäger zog mit sieben Jahren nach Speyer,studierte in Karlsruhe, Zürich und München und übernahm dann dieväterliche Druckerei. Im Jahre 1874 heiratete er Rosa, geb. Neu, ausObermoschel und sie hatten später 13 Kinder. Eugen gehörte 32 Jahredem Stadtrat an und verfasste insgesamt über 20 Werke. (19) Vgl. die „Speierer Zeitung“ vom 01.04.1927. (20) Ebenda vom 14.05.1927. (21) Hermann Kaufmann, 1876 geboren, erwarb im September 1905 dasDamen-Konfektionsgeschäft, Maximilian-Straße 25, vormals JakobAnnathan. Sein Sohn Fritz ertrank beim Schwimmen im Rhein mit seinerBraut Lisbeth Kestler, einer Gymnastiklehrerin aus München, am 07.08.1931. Er war im Alter von 24 Jahren, sie 22 Jahre alt. Wegen der„Arisierung“ verkaufte Hermann im Juli 1936 das Geschäft undemigrierte 1938 mit seiner Frau Paulina, geb. Moses, zu ihrer TochterLilli Hirsch in die USA. (22) Max Herz wurde 1878 in Ganzpohl bei Langenfeld / Solingengeboren. Er heiratete im Dezember 1904 in Bingen Juliane, geb.Durlacher, und betrieb ein Geschäft für Wäsche- undSäuglingsausstattung in der Maximilian-Straße 33. Sein Sohn Reinhold,geboren 1913, Berichterstatter jüdischer Zeitschriften, wurde 1933wegen Verbreitung von „Greuelnachrichten“ in Schutzhaft genommen. Eremigrierte im Jahre 1938 nach New York. Seine Eltern wurden 1940 nachGurs deportiert. Max wanderte vom Lager Les Milles im Jahre 1941 zuseinem Sohn nach USA aus und starb dort 1960. Seine Frau Juliane kamim KZ Auschwitz um. (23) Sie betrug 25% des Kapitalvermögens jüdischer Auswanderer unddiente den Nationalsozialisten als Teilenteignung. Die Freigrenze lagbei 50 000 Reichsmark. Wertpapiere und Bankguthaben konnten nur nachhohen Abgaben ins Ausland überwiesen werden. (24) Man schätzt die Anzahl der jüdischen Emigranten aus dem DrittenReich auf insgesamt ca. 250 000 Menschen, davon emigrierten allein 132000 in die USA. Weitere Recherchen sind noch im Gang, da manche Datenbeispielsweise im Krieg zerstört wurden. Eine endgültige Liste liegtbeim Bundesarchiv in Koblenz noch nicht vor. Vgl. Nicolai M.Zimmermann, die Liste der jüdischen Einwohner im deutschen Reich1933-1945. (25) Freundliche Mitteilung des Stadtarchivs Konstanz vom 31.07.2009. (26) Unter Diaspora, grch. „Zerstreuung, hebr. „Galut“, lat. „Exil“versteht man das Leben der Juden außerhalb Palästinas / Israels. 30.10.2011 11. SIGMUND DREYFUSS Die weitverzweigte Familie Dreyfuss (1) gehörte von Anfang an zurSpeyerer Israelitischen Gemeinde der Neuzeit und schriebStadtgeschichte mit. Sigmund wurde am 30.07.1859 in der Domstadt alsältester Sohn von Ferdinand (2) und dessen Ehefrau Sara, geb.Guggenheimer, geboren, die aus Fürth / Odenwald stammte. Er hatte vierBrüder Joseph, Jahrgang 1861, Karl, 1862, Maximilian, 1866, undMoritz, 1870. Hinzu kam noch eine Schwester namens Charlotte. Sigmundwar Vetter dritten Grades Henriettes, der Ehefrau von Jesaias Kuhn(3). Bereits mit seiner Geburt fiel die Entscheidung über seineBerufswahl: wie sein Vater und Großvater Moritz sollte erTextilkaufmann werden. Am 08.09.1884 heiratete er, ein Mann von zierlichem Körperbau, inSpeyer die um zwei Jahre jüngere und ebenfalls in der Domstadtgeborene Textilhändlerin Emma, geb. Dreyfuss. Als Trauzeugenfungierten sein Vater Ferdinand und sein Onkel Emanuel. Wohin dieHochzeitsreise ging, ist unbekannt. Die geräumige Wohnung der FamilieDreyfuss, eine Doppelhaushälfte mit Garten, steht in derHilgard-Straße 12.Ihre erstgeborene Tochter Marie erblickte imfolgenden Jahr, am 28.09.1885, in Speyer das Licht der Welt. ImNovember 1886 erhielt sie ein Brüderchen, namens Eduard, und im Juni1888 das Schwesterchen Gertrud als spätere Spielgefährtin. Da allerguten Dinge bekanntlich drei sind, blieb es bei den drei Geschwistern. Bald zeigte es sich, dass Marie, ein Mädchen von hübscher Gestalt,einen scharfen Verstand hatte und nicht auf den Mund gefallen war.Klar, dass sie Zöpfe trug, an denen böse Buben in der Volksschule, wosie Klassenbeste war, zogen. Später in der Töchterschule war sieweniger engagiert, aber für die Lehrerin, die die Schülerin hochverehrte, schrieb sie die besten Aufsätze und trug amSchuljahresabschluss Texte vor. Immer neue Streiche dachte sie sichaus, und sie amüsierte sich dabei prächtig mit ihren Freundinnen. Mit ihren Eltern machte sie Ausflüge mit dem Pfälzer Waldverein,sprach dem Pfälzer Wein zu und trank mit Freunden schon mal Sekt ausBiergläsern. Ihre zahlreichen Verwandten luden sie gerne auf einigeWochen oder auch auf längere Zeit nach Darmstadt, Aachen oder Dresdenein, wo ihre Vettern und Cousinen sie „Mohrrübchen“ nannten undTheater und Konzerte mit ihr gemeinsam besuchten, zumal Marie sehr gutLaute spielte, ausgezeichnet sang und tanzte. Nicht zuletzt rauchtesie gern. Da konnte das damals kleine Speyer einfach nicht mithalten(4). Als Sigmund Dreyfuss 1894 im besten Mannesalter von 35 Jahren stand,schlug in Paris wie eine Bombe die Affäre um Alfred Dreyfus ein (5).Nicht nur die Gleichnamigkeit der beiden Personen spricht dafür, dassSigmund von diesem antisemitisch motivierten Spionage-Prozess fürDeutschland nicht unberührt blieb. Denn die Affäre beschäftigte zwölfJahre lang Millionen Menschen in Frankreich und darüber hinaus und zogsie in ihren Bann. Man darf also annehmen, dass auch er um dasSchicksal dieses zu Unrecht verurteilten französischen Hauptmanns desGeneralstabs auf der Teufelsinsel Cayenne (6) bangte und sich 1906über dessen Rehabilitierung freute. Am Ende siegten nicht dieAntisemiten, sondern die wahrhaften Demokraten. Welche Lehre Sigmunddaraus für sich, seine Familie und Firma zog, steht nicht fest. Amwahrscheinlichsten scheint die Mutmaßung, dass er einen solchenVorfall im Deutschen Reich rundweg ausschloss. Anfang April 1898 verstarb seine Mutter Sara im Alter von 63 Jahrenund wurde auf dem südlichen Hauptweg des jüdischen Friedhofs an derWormser-Landstraße bestattet. Im März des folgenden Jahres stand dasHerz seines 72-jährigen Vaters Ferdinand plötzlich still, infolgeeines Herzschlags, ohne Todeskampf, nachdem er als Mitglied desAufsichtsrates einer Generalversammlung der Speyerer Volksbankbeigewohnt hatte. Die Presse widmete ihm einen beachtenswerten Nachruf(7). Er wurde zu seiner Frau beerdigt. Nach dem Tode seines Vatersbetrieb Sigmund mit seinem Bruder Joseph, einem schlanken undgemütvollen Menschen, die Kleiderfirma, Maximilian-Straße 38/39, Tel.89. Joseph wohnte in der Prinz-Luitpold-Straße 8. Die Spezialität der Firma Dreyfuss lag in „eisenstarken“ Hosen, weilsie am meisten beansprucht werden - vermutlich Blue Jeans aus SanFrancisco? - Loden-Mänteln, Waterproof-Mänteln und Umhängen. Sigmundließ sich stets von folgenden Grundsätzen leiten: er forderte gleichePreise von allen Kunden ohne Ausnahme, bot größte Auswahl, solideStoffe aus englischer und deutscher Produktion und das außergewöhnlichbillig (8). Wer bar bezahlte, erhielt blaue Rabattmarken. Wie sein Vater, war Sigmund Dreyfuss seit Beginn des 20. JahrhundertsAufsichtsratsmitglied der Speyerer Volksbank. Um die gleiche Zeit kamseine Tochter Marie ins Pensionat „Bonne Brise“ nach Lausanne, derHauptstadt des schweizerischen Kantons Waadt. Dort badete sie imSommer fast täglich im Genfer See, wie ihre Mutter im Rhein in derBadesaison. Ihr Vater war im Wanderausschuss des Pfälzer-Waldvereinstätig (9) und machte gerne in seiner Freizeit Gebirgstouren bis in dieGletscherregionen. Marie spielte mit ihren Freundinnen Tennis, war inKonditoreien ein gern gesehener Gast und paukte weiterhin diefranzösische Sprache, wozu noch englisch und italienisch kam. VieleJungmänner machten dem „gnädigen Fräulein“ den Hof, was ihre Eitelkeitschmeichelte, doch der Erwählte, das heißt, der „Einsam- und derEhelosigkeit Verlorene“, war ein anderer: Albert Mühlhauser ausKrumbach an der Kammlach (10) / Schwaben, ein stattlicher Mann mitSchnauzer und Fliege im weißen Oberhemd. Dieser junge Herr war im September 1878 als Sohn des Bankiers Salomonund dessen Ehefrau Ricka, geb. Bühler, geboren worden. Er besuchte inMünchen die Volksschule, feierte mit dreizehn Jahren die „Barmizwa“,das heißt, wurde religionsmündig und berechtigtes Mitglied zur Bildungdes „Minjan“ (11), wozu er traditionell zahllose Geschenke erhielt.Zum Weiterstudium in München kam er in ein Pensionat, das KahnscheInstitut. Dort versorgte ihn seine Mutter zusätzlich mit koscherenEsspaketen, darin eine Woche milchige Speisen, die andere fleischigeSpeisen enthalten waren. Gerne turnte er, entwickelte großesSchauspielertalent wie sein Vater und sang sehr gut. Er war einbestimmendes Wesen und legte Wert darauf, an seinem jüdischen Glaubenfestzuhalten. Mit Marie teilte er das Interesse für Musik und Gesangund das gesellschaftliche Leben. Albert hatte noch zwei ältere Brüder,Dr. Benno, der Lederfabrikant geworden war, Jakob, einenUnterhaltungskünstler, und die Schwester Luis. Alberts Eheschließungmit der Tochter des Textilfabrikanten fand am 02.03.1908 in Speyerstatt. Ziel der Hochzeitsreise: Bella Italia. Die Neuvermählten wohnten zunächst in Augsburg, wo am 21.11.1909 ihreerste Tochter, Stephanie, geboren und Sigmund zum ersten Mal Großvaterwurde. Drei Jahre später, am 26.03.1912, erblickte ihr erster Sohn,Franz, das Licht der Welt. Im folgenden Jahr übersiedelte die Familienach Speyer und bezog Wohnung in einem Einfamilienhaus mit Garten,Hartmannstraße 26, heute Schraudolph-Straße, nachdem Albert an allenTürpfosten in Kopfhöhe eine Mesusa (12) angebracht hatte. Zuerstwirkte er als Prokurist und bald danach als Teilhaber der Kleiderfirmaseines Schwiegervaters. Sigmunds einziger Sohn Eduard hatte nämlich nicht den väterlichenBeruf übernommen, womit dieser sicher gerechnet hatte, sondernstudierte Medizin an der Universität München und wurde nach demVorbild seines Onkels Maximilian Arzt, und zwar in Ferrara / Italien.War daraus ein Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn entstanden, wie dieVerhältnisse nahezulegen scheinen? Dass in der Dreyfuss-Kleiderfabrik ein gutes Einvernehmen zwischenArbeitgebern und Arbeitnehmern herrschte, beweist allein die Tatsache,dass der Schneidermeister Georg Müller, wohnhaft in der Mörschgasse28, im April 1910, das Goldene Dienstjubiläum feierte und weiterhinbei der Firma beschäftigt war. Sie bildete auch Lehrlinge aus (13). Auf die Vorschlagsliste des nationalliberalen Vereins zurStadtratswahl in Speyer für den Zeitraum 1910-14 ließ sich SigmundDreyfuss aufstellen und rangierte dort an zehnter Stelle von deninsgesamt einundvierzig aufgestellten Persönlichkeiten, die alleBerufsstände und Erwerbsgruppen vertraten. Er erhielt 1121 Stimmen undwurde damit Ersatzmann. Am 25.03.1912 wurde Dreyfuss als Aufsichtsratsmitglied der SpeyererVolksbank wiedergewählt. Am Tag darauf wurde er in derGeneralversammlung des Verbandes süddeutscher Kleiderfabrikanten (14)zum 1. Vorsitzenden gewählt. Dies war ein Beweis großen Vertrauens indie Handels- und finanzpolitischen Fähigkeiten des SpeyererFabrikanten, zumal es mit der deutschen Textilindustrie damals nichtzum Besten stand (15). Er nahm trotzdem die Wahl an. Der uralte Traum des Menschen, sich dem Vogel gleich in die Lüfte zuerheben, nahm erste Gestalt mit den Fluggeräten von Leonardo da Vinci,aber begann erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts Wirklichkeit zuwerden. 1907/08 hatte Ignaz Etrich die „E-Taube“, einen Tiefdecker,entwickelt, der seit 1910 in Berlin gebaut wurde. Und mit derLuftfahrt fühlte sich Dreyfuss in besonderer Weise verbunden. Von Juni1912 an war Dreyfuss Mitglied im Ortsausschuss für dieNational-Flugspende. Im Oktober des gleichen Jahres konnten Passantenim Schaufenster seiner Kleiderfabrik einen Propeller bewundern, denein taubstummer Bildhauer in zweijähriger Arbeit hergestellt hatte unddessen Flügellänge bis zur Achse 82 Zentimeter betrug. Im April des Jahres 1913 wurden im Schaufenster der Firma „M. DreyfussSöhne“ wieder besondere Objekte ausgestellt. Es handelte sich diesmalum Werke der Modellier- und Bildhauerkunst aus dem hiesigen AtelierHöpfel und Ebel. Sie zeugten von großem künstlerischem Können undschienen vom christlichen Glauben inspiriert worden zu sein (16).Anscheinend bevorzugte Dreyfuss die Bildhauerkunst, die nach Meinungvon Michelangelo Buonarroti, Heinrich Heine und anderenKunstliebhabern als dreidimensional die Kunst in vollendeter Formdarstellt. - Am 19.09. des gleichen Jahres erblickte Ernst, der zweiteSohn der Marie Mühlhauser, in Speyer das Licht der Welt, wieder Anlasszu einem Familienfest. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Internationalen Komitees vomRoten Kreuz (17) am 04.04.1914 unterstützte Dreyfuss in einem Aufrufan das deutsche Volk eine Rotes-Kreuz-Sammlung zugunsten derfreiwilligen Krankenpflege im Kriege, die sich für alle Fälle gerüstetfühlen wollte. Der Erste Weltkrieg warf bereits seine Schatten voraus. Im folgenden Monat gehörte Sigmund dem Festausschuss zur Vorbereitungdes „Prinz Heinrich-Fluges“ 1914 an. Am Sonntagnachmittag dieses17.05. strömten die Menschen aus der Pfalz, dem Elsass, Baden undHessen, um bei den Vorführungen dabei zu sein. 40 Militär- undZivilfahrzeuge passierten den Speyerer Flugplatz, und besondersInteressierte flogen auf Doppeldeckern der „Pfalz-FlugzeugwerkeSpeyer“ mit. Es liegt sehr nahe anzunehmen, dass einer dieserInteressierten Sigmund Dreyfuss selbst war. Zum Festabschluss gab esein Militärkonzert. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur drei Monatespäter veränderte trotz aller Anfangseuphorie das Leben der Menschenin allen Bereichen, wie es sich bald herausstellen sollte. Bei der Gemeinderatswahl in Speyer im Dezember 1914 für den Zeitraumbis 1919 gelang es Dreyfuss der große Durchbruch: Er wurde mit 1 626Stimmen gewählt und wirkte im Ausschuss für Handel, Verkehr undIndustrie mit. Aufgrund der angeordneten Arbeitseinschränkung machteer in einer Zeitungsanzeige (18) die Leserin und den Leser daraufaufmerksam, dass für Pfingsten bestimmte Maßbestellungen recht baldaufgegeben werden müssen, und dass die Preise wegen der Kriegslagesehr bescheiden ausfallen würden. Den Antisemitismus hielt Sigmund für eine Hydra, die man nichtunterschätzen durfte, sondern gegen die man sich aufs äußersteverteidigen musste, nicht wie in früheren Zeiten als rechtloseSchutzjuden, sondern als gleichberechtigte Staatsbürger, auch wenndiese Gleichberechtigung mehr auf dem Papier stand. So ließ er sichzum Vorsitzenden der Speyerer Ortsgruppe des im März 1893 in Berlingegründeten „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“wählen. Dieser Verein stand auf dem Boden der deutschen Nationalität,gehörte zu keiner politischen Partei - auch nicht zum Zionismus - undverwahrte sich gegen die Verallgemeinerung, mit der Vergehen einzelnerJuden der jüdischen Gesamtheit zur Last gelegt wurden. Durch seineTätigkeit leistete der Verein Kulturarbeit und trug zur Festigung derdeutschen Juden bei. Sein Organ, die Monatszeitschrift „Im deutschenReich“, trug absichtlich diesen Namen. In den Vereinsabenden in Speyerreferierten Gastredner über aktuelle Fragen, an die sich oft anregendeDiskussionen anschlossen (19). Im Juni 1917 wurde der Stadtrat Dreyfuss aufgrund seiner großenVerdienste zum Hauptmann der Landwehr befördert (20). Sein BruderMaximilian, der Arzt, erhielt im März 1918 den Rang einesOberstabsarztes. Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden DeutschenNationalverfassung im ersten Friedensjahr, am 19.01.1919, BezirkSpeyer, wurde Sigmund Dreyfuss als Wahlvorsteher ernannt. Doch dasschlechte Wahlergebnis der Deutschen Demokratischen Partei, abgk. DDP,der er angehörte (21) entsprach in keiner Weise seinen Erwartungen.Neue Hoffnungen legte er in die bevorstehenden Wahlen für denBayerischen Landtag. In einer Sitzung des Stadtrats im Juli 1919 (22) fragte Dreyfuss an,ob es nicht möglich sei, die Sperrstunden, die für Gaslieferung nötiggeworden waren, so zu verlegen, dass Kleinindustrie und Handwerkinfolge der gänzlich ungenügenden Kohlenzufuhr nicht so empfindlichgeschädigt würden. Zwei Monate später, am 20.09.1919, brachte seineTochter Marie die zweite Tochter, Klara, zur Welt, die mit einemFreudenfest aufgenommen wurde. Im Hause Mühlhauser wurde oft und gernemusiziert, auch mit Freunden, bis zu Beginn der NS-Zeit. Zur Stadtratswahl 1920 stellte seine Partei Sigmund auf, und erübernahm die schwere Bürde eines Stadtrates - von Würde konnte bei dendamaligen politischen Verhältnissen keine Rede mehr sein - die er bis1929 trug. Er schonte seine Kräfte nicht. Im gleichen Jahr wurde erzum 1. Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Speyerer Volksbank gewählt.Am 18.07. des gleichen Jahres wurde sein Schwiegersohn AlbertMühlhauser als Mitglied des Speyerer Synagogen-Rates gewählt. In einer Zeitungsanzeige (23) gab Dreyfuss die Hochzeit seines SohnesEduard mit Gertrud, geb. Müller, aus Leipzig bekannt. Sie fand im Juni1922 in Mailand, der wichtigsten Industrie- und Handelsstadt Italiens,statt. Nur drei Monate danach, am 19.09., starb Dreyfuss‘ Frau Emma,71-jährig, nach kurzem Leiden und wurde auf dem südlichen Feld desjüdischen Friedhofs in Speyer beigesetzt. Nach ihrem Verlust verspürteSigmund eine unendliche Leere. Er vermochte nicht vorauszuahnen, dasser noch einen langen und dornenvollen Lebensweg zu bewältigen hatte,meist allein. Knapp zwei Jahre später gab Dreyfuss folgendeTodesanzeige in der Presse (24) auf: „In tiefstem Schmerz geben wir von dem am 11.06.1924 in Ferrara erfolgten Hinscheiden unseres lieben Herrn Dr. med. Eduard Dreyfuss Kenntnis und bitten um stilles Beileid. Er starb nach schwerem Leiden als Opfer seines Berufes. Im Namen der trauernd Hinterbliebenen: Sigmund Dreyfuss“. Bei der Pflege seiner Patienten hatte sich Eduard im Alter von 37Jahren eine Augen-Blutvergiftung zugezogen. Unter den Menschen, dieihm das letzte Geleit gaben, befand sich, außer seiner Frau, seinenFreunden und Kollegen, sein 65jähriger Vater, der mit anderenVerwandten aus Deutschland mit der Bahn angereist war. Nach erfolgterEinäscherung der Leiche brachte Sigmund die Urne mit der verbliebenenAsche auf den jüdischen Friedhof in Speyer, wo sie in einem eigenenGrab hinter dem seiner Mutter in aller Stille beigesetzt wurde. Eduardhatte keine Kinder hinterlassen. Im Jahre 1925 durfte Dreyfuss auf eine 25-jährige Tätigkeit im Diensteder Speyerer Volksbank zurückblicken. 1927 wurde er zum Kommerzienraternannt (25). Im Mai 1928 feierte die Kleiderfabrik „M. DreyfussSöhne“ das 100-jährige Jubiläum seines Bestehens (26). Aus diesemAnlass wurden die Geschäftsräume unter Leitung eines SpeyererArchitekten und durch Speyerer Handwerksmeister gründlich renoviertund so gestaltet, dass sie sich in jeder Großstadt hätten sehenlassen. Die Firmenleitung lud die Kunden zur Besichtigung ein und batum die Fortdauer des ihr erwiesenen Wohlwollens. Am 30.07.1929 begingDreyfuss seinen 70. Geburtstag in vollster körperlichen und geistigenFrische, wozu ihm auch die Presse gratulierte (27). Jedoch die „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten Ende Januar1933 traf ihn und auch seinen Bruder Josef wie der Aufprall einesMeteors. Aus dem Stadtrat Dreyfuss wurde gleich Sigmund, der „Saujud“.Es beginnt Sigmunds letztes Lebensjahrzehnt, das tragisch endensollte. Zunächst musste er am 01.04. des gleichen Jahres denallgemeinen „Judenboykott“ über sich ergehen lassen, weil dieinternationale Presse ausführlich über die Hetze gegen Juden in denbeiden ersten Monaten der NS-Regierung berichtet hatte. Als Reaktiondarauf klebten mehrere SA-Leute an seinem Geschäft Aufrufe zum„Judenboykott“ und schreckten Kunden davor zurück, den Laden zubetreten. Fotos hielten diesen Vorfall fest. Anfang September 1933 erfuhr Sigmund in seiner Familie einen hartenSchlag. Josef, sein Bruder und Mitinhaber, der mit ihm jahrelang dieKleiderfabrik erfolgreich geleitet hatte, verstarb am 03.09., im Altervon 72 Jahren. Die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten,die sie bereits in der Zeit der Weimarer Republik getrieben hatten undjetzt erst recht trieben, hatte ihn schließlich zermürbt. Sigmundverzichtete erzwungenermaßen auf die Firma und bezog 1935 eine Wohnungin der Bahnhofstraße 14. Sein „Trautes Heim - Glück allein“ sah er niewieder. Seine Enkelin Stephanie, die nach Aussage der Zeitzeugin GertrudKellermann-Fenchel (28) öfters zusammen mit ihrem Vater mit demPfälzerwald-Verein wanderte, Büroangestellte geworden und 1932Führerin der Mädchengruppe im jüdischen Jugendverein (29) war, traf1936 eine gute alte Bekannte, die sie freundlich begrüßte. AberStephanie beschwörte sie, nicht bei ihr stehen zu bleiben, da dies ihrschaden könne und ging weg wegen der Verhaftungsgefahr! Sie emigrierteim gleichen Jahr nach USA. Das Gleiche gelang ihrem Bruder Ernst, derden Kaufmannberuf in Trier ausgeübt hatte, im Jahre 1938. Sein Bruder Franz, Absolvent des Gymnasiums am Kaiserdom und danachStudent in Heidelberg, betrat am 07.11.1938 in der Hafenstadt Haifaden Boden des damaligen britischen Mandatsgebiets Palästinas, denn erwollte sich in jedem anderen Land nicht sagen lassen: „Du gehörst garnicht hierher!“ In Erez Israel, und zwar in Jerusalem, wurde er alsEphraim Millo Ministerialbeamter im sozialen Bereich bis zurPensionierung. Die jüngste Schwester Klara, stets „Klärle“ gerufen,hatte am 21.04.1934 ins Poesialbum der Mitschülerin Ilse Leibrock,spätere Benzing, eine altbekannte Weisheit niedergeschrieben, aber sieklang bei ihr so, als hätte sie eine klare Vorahnung dessen, was sieerwartete: „Im Glück nicht jubeln, im Leid nicht klagen, das Unvermeidliche mit Würde tragen“. Sie war Erzieherin in Berlin geworden und blieb bei ihren Eltern. Ihr Vater, Albert Mühlhauser, der mittlerweile als Vorsitzender desSynagogen-Rats Speyer amtierte, war am Sonntag, dem 28.11.1937, einerder prominenten Festredner, als die Israelitische KultusgemeindeSpeyer das hundertjährige Bestehen ihrer Synagoge beging, in sehrfeierlicher Weise, mit Gebeten, Gesängen und Festansprachen. Was fürein unüberbrückbarer Gegensatz zu der Umwelt, in der sie täglichlebte! Obwohl kein Jude seinen Wohnort ohne schriftliche Erlaubnis derGestapo verlassen durfte, brachte sich Sigmund auf Anraten von treuenFreunden vor dem Novemberpogrom 1938 in Sicherheit. Er flüchtetezunächst nach Baden-Baden (30), wo er bei seiner Tochter Gertrud,verheiratete Teutsch, in der Zeppelin-Straße Aufnahme fand, allerdingsvorübergehend. Seine Speyerer Wohnung wurde im Verlauf der„Reichskristallnacht“ geplündert und verwüstet. Albert Mühlhauser warvom 12. bis 28.11.1938 im Konzentrationslager Dachau. Nach seinerFreilassung musste er sein Haus aufgeben und wohnte seit dem03.11.1939 mit Frau und Tochter Klara in der St.-Guido-Straße 25 undschließlich in einem „Judenhaus“, Gilgen-Straße 25. Wie alle Juden im Dritten Reich musste Sigmund seit dem 01.01.1939seinem alten deutschen Vornamen den Zwangsnamen „Israel“ hinzufügen.Weil die Stadtverwaltung Baden-Baden, wo Dr. Adolf David (31) 38 Jahredavor zur Kur geweilt hatte, ihm keine Aufenthaltsgenehmigungerteilte, zog er weiter in die Kurstadt Wiesbaden, wohin einst WilhelmII zur Kur reiste (32). Hier wohnte er ab 05.04. 1939 in einemstattlichen Gebäude in der Humboldt-Straße 9, aber ihm kam alles sovor, als lebte er im Exil. Am 29.11.1940 wurde er in eineGemeinschaftsunterkunft in der Mainzer-Straße 60 eingewiesen. Einen Monat davor waren seine Tochter Marie mit dem SchwiegersohnAlbert Mühlhauser und der Enkelin Klara im Rahmen der „Wagner /Bürckel Aktion in das Internierungslager Gurs in die unbesetzte ZoneFrankreichs verschleppt worden, wo es keinerlei Privatsphäre gab. Auf900 Meter Höhe musste Albert in einer erbärmlichen Lagerbaracke, seineFrau und Tochter in einer anderen, auf einer Strohmatratze sitzend,dahinvegetieren und frieren. Dabei war das Schlimmste nicht derHunger, der Schlamm oder die Ratten, sondern die Geschlechtertrennung,die Perspektivlosigkeit und die zermürbende Langeweile. Zwar hattendie Lagerbaracken eine gewisse Selbstverwaltung, aber die wenigenArbeitsplätze reichten bei weitem nicht aus, um alle zu beschäftigen.Nicht zuletzt bekamen die Internierten von Zeit zu Zeit, meist ausnichtigen Anlässen, ihren Lagerkoller. Über die Lagerverhältnisse konnte Familie Mühlhauser Sigmund in kurzenzensurierten Zeilen berichten. Daraufhin schrieb Sigmund „Israel“Dreyfuss am 29.12.1940 von Wiesbaden aus einen Brief an denOberbürgermeister Karl Leiling, den er persönlich gut kannte, mit derBitte um Freigabe von Bekleidungsstücken, Leibwäsche und Schuhen ausdem Haushalt seiner Angehörigen in der Hartmannstraße 26. Weiterhinmerkte er an, dass er die von der Handelskammer verlangte Löschung derFirma nicht vornehmen könne, da ihm die nötigen Unterlagen fehlten,die er seinem Teilhaber Albert Mühlhauser überlassen hatte. Er fragteaber an, ob er jemand dort damit beauftragen sollte. Zugleich erwähnteer abschließend, dass er psychisch und physisch so gebrochen sei, dasser deshalb nicht die Kraft aufbringe, zu verreisen oder sonstirgendetwas zu unternehmen. Erst nach fast zwei Monaten erhielt er von der Stadtverwaltung dieknappe Antwort, man solle zunächst das Ergebnis der Verhandlungenzwischen der NS-Gauleitung und der Reichsvereinigung der Judenabwarten (33). In Wirklichkeit war der Haushalt der Familie Mühlhauserlängst aufgelöst worden, Kleider, Wäsche und Schuhwerk nach mehrfacherSchätzung versteigert, wie die übrige Einrichtung. In der kalten und zügigen Baracke des Lagers mussten Albert, seineFrau Marie und Tochter Klara weiterhin frieren, jammern und hoffen.Nur noch mit Wehmut dachten sie an die Annehmlichkeiten ihres SpeyererEigenheimes zurück und an die dort sowie in Darmstadt, Aachen, Dresdenund Krumbach verbrachte Zeit, die ihnen jetzt wie ein verlorenesParadies vorkam. Seit dem 15.09.1941 musste Sigmund wie alle Juden im Deutschen Reichdas gelbe Sechseck in Form des Davidsterns - eigentlich Davidschilds -mit dem schwarzen J für „Jude“ tragen, offen an der linken Brustseite.Ein halbes Jahr später musste er auch seine Wohnung durch den„Judenstern“ kennzeichnen. Aus Emanzipierten und Assimilierten warendie Juden jetzt alle Gezeichnete geworden. Zunehmend fühlte sichSigmund wie Ahasver (34) und Hilfe winkte von keiner Seite. Vermutlicherfuhr er nicht einmal, dass sich von Anfang an Widerstand formierthatte, dass sich beispielsweise Sozialdemokraten unter Decknamentrafen und Stützpunkte zur Beschaffung von Informationen zwischenihrem Exilapparat und der deutschen Widerstandsbewegung u.a. in Mainz,Worms und Speyer gebildet hatten. In einer so lebensbedrohlichenSituation spendete ihm wenigstens eine Zigarre Trost? Am 12.08.1942 kamen seine Familienangehörigen von Gurs aus über dasDurchgangslager Drancy nordöstlich von Paris, angeblich zum„Arbeitseinsatz“, in das Lager Auschwitz, wo sie elend umkamen. IhreNamen stehen - wie der von Sigmund Dreyfuss - auf der Bronzetafel amMahnmal für die jüdischen Opfer der Naziverfolgung gegenüber demStandort der 1938 zerstörten Synagoge. Sigmunds zweite Tochter, HedwigGertrud, die nach Frankreich emigriert war, in der Hoffnung, derVernichtungsmaschinerie der Nazis zu entrinnen, wurde ebenfalls überdas Lager Drancy nach Auschwitz deportiert, wo sie unglücklich zu Todekam. Hatte Sigmund davon bereits Kenntnis erhalten? Als der damals83-Jährige von seiner bevorstehenden Überführung ins AltersghettoTheresienstadt erfuhr, wählte er, einsam und verlassen, am 26.08. desgleichen Jahres den Freitod durch Vergiftung. Es war zu viel für einenMenschen, der stets anständig durchs Leben gegangen war und sich fürdas Gemeinwohl eingesetzt hatte. Genau das Gleiche tat Dr. Edmund Kahnin Rülzheim mit seiner Familie (35). Sein Leichnam wurde auf demjüdischen Friedhof Platter-Straße in Wiesbaden bestattet. Niemandsprach für ihn, diese Gestalt Hiobs oder wie aus einer griechischenTragödie, den Kaddisch, um seiner Seele Ruhe zu geben. Dieses jüdischeTotengebet enthält kein Wort über Sterben, ist ein einziger LobpreisGottes und hat eine gewisse Ähnlichkeit sowohl mit dem Vaterunser derChristen (36) als auch mit der ersten Sure des Korans, der Fatiha.Sigmund ist die älteste Person der hier Porträtierten. Ehrenamtliche Mitarbeiter des Vereins „Aktives Museum Spiegelgasse fürDeutsch-Jüdische Geschichte in Wiesbaden e.V.“ (37) haben ihre Bürgerauf das Schicksal dieses hochverdienten Speyerer Bürgers (38)aufmerksam gemacht. Zunächst im März 2010 durch ein „Erinnerungsblatt“und am 05.05. durch einen „Stolperstein“. Sein Name darf nach so vielEngagement für seine Stadt der unverdienten Vergessenheit nichtanheimfallen. Weder jetzt noch in Zukunft. (1) Vgl. das Adressbuch der Stadt Speyer 1868/69. Es ist das ältesteAdressbuch, das das hiesige Stadtarchiv verwahrt. Der FamiliennamenDreyfus(s) wird nicht von einem dreifüßigen Geschirr, sondern vomfranzösischen Namen der Stadt Trier - Trèves - abgeleitet. Es ist einalter Herkunftsname. Mehrere Angehörige der Familien Dreyfuss liegenim Judengärtel und auf dem jüdischen Friedhof an der WormserLandstraße bestattet. (2) Sein Vater übernahm die Herrenkleiderfabrik, die dessen VaterMoritz 1828 in der Korngasse 43 gegründet und 1859 in derMaximilian-Straße 38/39 ausgebaut hatte. Ferdinand warAufsichtsratsmitglied der Speyerer Volksbank von 1893 bis 1899. (3) Vgl. Kurzporträt Nr. 1. (4) Vgl. die im schwarzen Einband gebundene Broschüre „Tagebuchzweier Verlorener“, 1908. (5) Im Dezember 1930 strahlte das Palast-Theater Speyer denDokumentarfilm „Dreyfus“ aus. Die Dreyfus-Affäre platzte ausgerechnetin dem Land, das den Juden als erstes in Europa die Bürgerrechteverliehen hatte. Unter ihrem Eindruck schrieb der Schriftsteller undJournalist Theodor Herzl 1895 das Buch „Der Judenstaat“ und wurde sozu einem der Väter des Zionismus und zum Vordenker Israels. Er hattenämlich erkannt, dass die Judenassimilation ein Irrweg war. Zwar wurdeer als „der jüdische Jules Verne“ oder als ein zweiter Sabbatai Zwigespöttelt, weil die westdeutschen Juden so assimiliert waren, dasssie geringe Neigung verspürten, Zionisten zu werden und nach demdamaligen Palästina, dem „Land der Väter“, auszuwandern. Aberdreiundfünfzig Jahre später wurde der Traum Herzls und seiner Anhängernach dem Drama des Holocaust Wirklichkeit. Allerdings wird noch nacheiner politischen Lösung der Spannungen zwischen Israelis undPalästinensern gesucht, damit aus dem Traum kein Trauma wird. (6) Diese Insel liegt 10 km vor der Küste von Französisch-Guayanaund war von 1852 bis 1945 französische Strafkolonie. (7) Vgl. die Speierer Zeitung vom 20.03.1899. (8) Ebenda vom 30.04.1913. (9) Vgl. das Adressbuch der Stadt Speyer 1911. (10) Erst seit 1372 gibt es sichere Hinweise aufjüdisches Leben in Krumbach, denn in diesem Jahr bestimmte derNürnberger Burggraf Friedrich V. den Bayreuther „Judenmeister“, Meierzu Peyerrent, zum Landesrabbiner für die Juden in Bayreuth, Hof undKrumbach. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts scheint keine jüdischeGemeinde in Krumbach mehr existent zu sein. Seit dem 19. Jahrhundertdurften sich Juden dort nur tagsüber aufhalten, um ihren Geschäftennachzugehen. Gottesdienste fanden in einem gemieteten Saal des „CafeBeyerlein“ statt. Die Krumbacher Juden bildeten eine sehr kleineMinderheit und lebten eher unauffällig. Ihre Toten bestatteten sie aufdem Friedhof in Burgkundstadt. In der NS-Zeit gehörte Krumbach zueiner ihrer Hochburgen. Vgl. Klaus-Dieter Alicke, „Lexikon derjüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum“, Gütersloher Verlagshaus,2008. (11) Vgl. Kurporträt Nr. 7, Anmerkung 13. DieZahl Zehn geht auf die zehn Gerechte zurück, die auf Abrahams Fürbittedie beiden sündigen Städte Sodom und Gomorra vor der Vernichtunggerettet hätten, wenn es sie dort gegeben hätte. Vgl. Genesis, Kapitel18, Vers 16-33. (12) Die Mesusa ist ein in eine Hülse gelegterPergamentstreifen, auf dem ein Gebet geschrieben ist, das mit denWorten beginnt: „Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige isteinzig…“ Jeder religiöse Jude küsst beim Vorbeigehen die Mesusa, indemer die Finger der rechten Hand darauf legt und diese dann an dieLippen führt. Die Mesusa hat aber auch eine soziale Komponente. Sieverpflichtet die Juden, jedem Hilfsbedürftigen beizustehen, ganzgleich, welcher Nation oder Religion er angehört. (13) Vgl. die Speierer Zeitung vom 28.03.1908. (14) Ebenda vom 30.04.1913. Zu diesem Verbandgehörten so bedeutende Städte wie München, Stuttgart, Heidelberg,Speyer, Worms, Mainz, Darmstadt, Würzburg und Frankfurt am Main. (15) Ebenda vom 08.06.1912. Die schwierige Lageentstand durch eine ungünstige Konjunktur, den Preissturz auf demBaumwollmarkt um fast 50%, die Einführung des 10-Stunden-Arbeitstagesund die stetig wachsenden Steueransprüche des Staates und derGemeinden. (16) Ebenda vom 18.04.1913. (17) Der schweizerische Philanthrop, HenriDunant, war Zeuge des Elends der Kriegsverletzten während der Schlachtvon Solferino / Mantua, bei der die Franzosen und Italiener unterNapoleon III. 1859 über die Österreicher unter Franz Joseph siegten.Im Jahre 1864 veranlasste Dunant die Genfer Konvention über humaneBehandlung verwundeter und kranker Kriegsgefangener. Er gründete dasRote Kreuz und erhielt dafür 1901 den Friedensnobel-Preis. (18) Vgl. die Speierer Zeitung vom 03.05.1916. (19) Vgl. „Ein Vierteljahrhundert im Kampfe umdas Recht und die Zukunft der deutschen Juden“, Verlag desCentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 1918.Die Nationalsozialisten verboten diesen Verein am 10.11.1938. (20) Vgl. die Speierer Zeitung vom 13.06.1917. (21) Der evangelische Theologe und PolitikerFriedrich Naumann stellte während des Ersten Weltkriegs ein Programmder mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf. Im Juli 1919 wurdeer Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei. Diese sollte dieArbeiterschaft um sich sammeln und Staat und Wirtschaft liberalumgestalten. Durch seine starke und lautere Persönlichkeit übteNaumann einen starken Einfluss auf die junge Generation derJahrhundertwende aus. Zwar gehörten seiner Partei auch namhafte Bürgeran, aber sie hatte eine schmale Basis von Wählern. Bereits imfolgenden Monat starb Naumann 59-jährig in Travemünde. Im Juli 1930schloss sich die DDP mit dem Jungdeutschen Orden zusammen und nanntesich in Deutsche Staatspartei um. In Speyer bestand eineDDP-Ortsgruppe. (22) Vgl. die Speierer Zeitung vom 23.07.1919. (23) Ebenda vom 20.06.1922 (24) Ebenda vom 15.06.1924. (25) Katrin Hopstock in „Die Juden von Speyer“,Bezirksgruppe Speyer, Historischer Verein der Pfalz, 2004. (26) Vgl. die Speierer Zeitung vom 05.05.1928. (27) Ebenda vom 30.07.1929 (28) Das berichtete sie beim Erzählcafé am10.01.1995 im Veranstaltungsraum des Speyerer Seniorenbüros. (29) Vgl. Adressbuch der Stadt Speyer 1931/32. (30) In diesem internationalen Kurort lebten vorder NS-Zeit reiche jüdische Kaufleute, von denen viele aus Russlandstammten. Als die Nazis am 10.11.1938 die dortige Synagoge durchBrandstiftung zerstörten, äußerte die Bevölkerung durch verschiedeneZeichen ihre Missachtung, die den Grad der Empörung deutlich erkennenließ. Vgl. „Das Neue Badener Tageblatt vom 11.11.1938. (31) Vgl. Kurzporträt Nr. 4. (32) Bis zum Ersten Weltkrieg erlebte Wiesbadenmit seinen 27 Quellen eine Glanzzeit als sommerlichen Treffpunkt desKaisers und des Hofes. Auch Künstler fühlten sich von der Kurstadtbesonders inspiriert, wie Johannes Brahms, der hier 1883 seine DritteSinfonie komponierte. Die Stadt hatte das Glück, im Zweiten Weltkriegnur wenig zerstört worden zu sein. (33) Vgl. Karl Heinz Debus in „Die Juden vonSpeyer“, S. 264. (34) In der Volkssage ist Ahasverus der Name des„Ewigen Juden“, der Jesus auf dem Wege nach Golgatha vor seinem Hausenicht ausruhen ließ und nun rastlos umherwandern muss bis zum Tag desJüngsten Gerichts, ohne die Ruhe des Todes zu finden. Der ZeichnerGustave Doré stellte ihn 1856 dar, wie er bekleidet mit einerMönchskutte, mit einem langen weißen Bart, in der linken Hand einengroßen Stab und in der rechten einen Geldbeutel, an dem gekreuzigtenJesus vorbeizieht. (35) Vgl. Bernhard Kukatzki in „JüdischeGeschichten aus der Pfalz“, S. 117. Dr. med. Edmund Kahn, geb. 1897 inRülzheim, gest. 1943 in Frankfurt am Main, war ein beliebter Arzt undgeachteter Bürger in Rülzheim. Als die Überführung in das LagerTheresienstadt bevorstand, beging er mit Frau Flora und TochterLieselotte Selbstmord. Ostjuden, manchmal von den Westjuden abschätzig„Polacken“ genannt, verfügten in der Regel über mehr Widerstandskraftgegen den Freitoddrang als die stark assimilierten Juden im Westen. (36) Der Kaddisch ist ein aramäisches Gebet, dasdie Heiligkeit Gottes bzw. seines Namens preist und wird bei derBeerdigung eines Juden / einer Jüdin auf feierlich-getragene Weise vondem ältesten Sohn oder dessen Stellvertreter gesprochen. Dieses Gebetwird auch im Gottesdienst und beim Lernen der Thora und des Talmudsgesprochen. (37) Die Informationen über die letzten JahreSigmund Dreyfuss‘ in Wiesbaden verdankt der Autor Dr. med. ElisabethSchaub, Wiesbaden. (38) Der Name Sigmund Dreyfuss stand nicht aufder Liste der am 22.10.1940 deportierten Speyerer Juden, da er zu derZeit nicht mehr in Speyer wohnte. Er verdient aufgrund seinerPersönlichkeit und seiner Verdienste, dass die Stadt eine Straße ineinem Neubaugebiet nach ihm benennt, da sonst an das über 900-jährigejüdische Erbe der Stadt eine einzige Straße erinnert: die Judengasse. 06.10.2011 10. DR. MED. SIEGMUND REIS Die kleine Landgemeinde Echzell im hessischen Landkreis Büdingen, nahedem Kurbad Nauheim, gelegen, wurde am 17.05.1857 der Geburtsort desSchwiegersohnes von Dr. Adolf David (1): Siegmund Reis, einAltersgenosse von Theodor Altschul (2). Siegmunds Eltern waren Emilund dessen Ehefrau Bertha, geb. Kahn. Auf der Suche nach besserenAufstiegschancen war die Familie Reis von Echzell nach Darmstadtgezogen. Siegmund widmete sich dem Medizinstudium, das er erfolgreichabschloss. Der Grund weshalb viele Bürger jüdischen Glaubens denArztberuf wählten, hing damit zusammen, dass sie seit 1872 das Studiuman den Universitäten Berlin und Halle beispielsweise absolvierendurften, ohne durch die Taufe ihr Judentum verleugnen zu müssen (3).Seit dem Mittelalter blickten Juden auf eine jahrhundertealtemedizinische Tradition zurück, und wenn schon Ärzte einenausgezeichneten Ruf genossen, waren Bürger jüdischen Glaubens imAllgemeinen sehr hygienebewusst. Welche Beweggründe Dr. Reis nach Speyer führten, lässt sich nicht mehrfeststellen. In der Domstadt vermählte er sich am 03.11.1885 mit derum fünf Jahre jüngeren Speyerin und Arzttochter Franziska, geb. David.Als Trauzeugen bei der Zeremonie im Standesamt Speyer traten bekanntePersönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf: ihr ältester Onkel,Theodor David (4), sowie Louis Levinger, 1864 Mitbegründer derSpeyerer Volksbank mit Sitz in der Wormser-Straße 15 und im Jahre 1889der Baumwollspinnerei in der Friedrich-Ebert-Straße. Neun Monate später brachte Franziska, am 20.08.1886, in Speyer ihrerstes Kind, den Sohn Karl, zur Welt, zwei Monate und sieben Tage,nachdem der geisteskranke König, Ludwig II. von Bayern - der„Märchenkönig“ - im Starnberger See bei Schloss Berg unterungeklärten Umständen mit einundvierzig Jahren ertrank. Seinbetreuender Arzt, der Psychiater Dr. Bernhard Aloys von Gudden, kambeim Versuch, seine Majestät zu retten, ums Leben. Dr. Reis eröffnete 1888 seine Praxis in der Ludwigstraße 5, amKönigsplatz, und war erreichbar unter der Tel.-Nr. 116. Er behandelteseine Patienten täglich von 13.00 bis 15.00 Uhr, machte außerhalb derSprechstunden Krankenbesuche und betreute von 1906 bis 1911 (5) seinePatienten als Belegarzt im 1905 erbauten St. Vincentius-Krankenhaus.Damit war er auch ein Arbeitskollege von Dr. Willy Taendler (6). Zudemwirkte er als Kassenarzt für die zahlreichen Beschäftigten derBaumwollspinnerei (7) und als Leichenbeschauer für das gelbe, grüneund blaue Stadtviertel (8). Inzwischen genoss Dr. Reis so sehr die Hochachtung seiner Bürger, dasser den Umfang seiner Tätigkeit ausweiten konnte. Als Nachfolger seinesSchwiegervaters, Dr. Adolf David, wurde er zum Vorsitzenden desFröbelvereins gewählt. Dieser Verein machte es sich zur Aufgabe, dieErziehungsideen des Namensträgers, Friedrich Fröbel, in derBürgerschaft zu verbreiten. Seine Ziele lauteten: Heranbildung von„freien, denkenden, selbsttätigen Menschen“ ohne Komplexe undMinderwertigkeitsgefühle. Der bereits am 23.06. 1874 konstituierte Verein unterhielt einenKindergarten für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren in einemAnwesen mit Garten und Spielplatz in der Karmeliterstraße 5b (9). Erbot Platz für 135 Kinder, die von zwei Kindergärtnerinnen, einerGehilfin und einer Praktikantin betreut wurden (10). Die Preise warenfür jeden Geldbeutel erschwinglich: Für ein Kind wurden pro Monat 2Mark, für zwei Geschwister 3 Mark und für drei Geschwister nur 4 Markerhoben (11). Allmählich entwickelte sich der Kindergarten in pädagogischer undhygienischer Beziehung zuerst dank der Tätigkeit von Dr. David unddann von Dr. Reis zu einem wahren „Schmuckkästchen“. Die Erfolge derdort vermittelten Erziehung zeigten sich alljährlich bei denSchlussfesten im schönsten Licht (12). Deshalb wurde diese damalsmoderne Einrichtung von Zeit zu Zeit von der Stadtverwaltung, derSpeyerer Volksbank und der Speyerer Filiale der Rheinischen KreditbankMannheim durch freundliche Zuwendungen unterstützt. Dr. Reis‘ kleiner Sohn Karl erhielt am 28.09.1889 einen Bruder namensFriedrich. Dieser neue Erdenbürger aber sollte Dr. Reis und seinerFrau Franziska ein Sorgenkind werden wegen seiner schwächlichenGesundheit und eine stete Quelle des Kummers und der Angst. Dashinderte Frau „Dr.“ Reis jedoch nicht daran, eine soziale Aufgabe zuübernehmen: sie war im Ausschuss des Roten Kreuzes tätig (13) nebenhervorragenden Damen der Stadt. Der Lauf der Zeit lässt sich nicht aufhalten. Am 17.05.1907 konnte Dr.Reis im Kreise seiner Familie und Freunde einen runden Geburtstagfeiern, den Fünfzigsten. Es fehlten auch nicht Glückwünsche seitensvieler Förderer und Bekannten. Der Jubilar hatte bereits mehr alsseine Lebenshälfte überschritten, aber er fühlte sich noch kerngesundund entschlossen, seine Tätigkeit fortzusetzen, ja sogar neueHerausforderungen anzunehmen. Das traf fast ein Jahr später, am 26.04 1908, zu. Auf derkonstituierenden Sitzung des Israelitischen Vereins für das Altersheimfür die Pfalz e.V. in Neustadt an der Haardt - jetzt an der Weinstraße- wählten ihn die Anwesenden zum Ersten Vorsitzenden und Salomon Marxaus Landau zum Zweiten Vorsitzenden. Dieser Verein sah seine Aufgabedarin, ein Heim für die älteren pfälzischen Bürger zu errichten, dieaufgrund der Auswanderung der jungen Generation in die weite Welt,bedingt durch den wachsenden Antisemitismus im 19. Jahrhundert und zuBeginn des 20.Jahrhunderts, nicht selten allein zurück blieben. DemVerein gelang es in kurzer Zeit, eine große Anzahl Geldspender zugewinnen, nicht nur in der Pfalz und darüber hinaus, sondern auch imAusland. Seit dem Jahr 1900 hatte sich die Mitgliederzahl der jüdischenKultusgemeinde Speyer von 520 auf 403 verringert. Tendenz fallend. Dieältere Generation fühlte sich ohnehin den Anforderungen einerAuswanderung kaum gewachsen, denn „alte Bäume soll man nichtverpflanzen“, wie es im Volksmund heißt. Selbstverständlich gehörtenDr. Reis und seine Frau Franziska als Mitglieder zu diesem Verein(14). Der Name Dr. Reis wurde sogar im Stifterbuch verewigt. Auf der zweiten ordentlichen Generalversammlung am 05.04.1910 im HotelWeil in der Talstraße 7 in Neustadt a. d. Haardt gedachte Dr. Reiszunächst ehrend der verstorbenen Mitglieder und Förderer, die sich umdie Ziele des Vereins verdient gemacht hatten. Dann verlasSchriftführer Leopold Klein (15) den Verwaltungsbericht undanschließend legte der Schatzmeister, Lehrer Leo Waldbott (16), beideaus Speyer, den Rechnungsbericht vor. Demzufolge war dasVereinsvermögen in zwei Jahren durch die Spenden pfälzischer undauswärtiger Juden auf rund 88 000 Mark angewachsen, so dass man dieVerwirklichung des Vereinszieles schon ins Auge fassen konnte. Der umden Verein besonders verdiente Bezirksrabbiner i.R. Dr. David Salvendi(17) wurde zum Ehrenmitglied ernannt. Tief bewegt erfuhren Dr. Reis und seine Frau Franziska vom TodeFlorence Nightingale, der Begründerin der modernen Krankenpflege, dieam 13.08.1910 im Alter von 90 Jahren in London verstorben war. Diesogenannte „Lady with the lamp“ - die Dame mit der Lampe - weil sie inden dunklen Lazaretten auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim mit einerLampe an den Betten der verwundeten Soldaten auftauchte, leistetePionierarbeit auf dem Gebiet der Krankenpflege, die damals sehr imArgen lag. Wie Franziskas Vater schonte sie sich auch dann nicht, wennes darum ging, Cholera und Typhus zu bekämpfen. Als Standort des zu bauenden Altersheimes kamen insgesamt drei Städtein Betracht, die geeignete Bauplätze unentgeltlich zur Verfügunggestellt hatten: Das schon genannte Neustadt an der Haardt, die„Salierstadt“ Bad Dürkheim und die „Barbarossastadt“ Kaiserslautern.Schließlich fiel die Entscheidung zugunsten des Bauplatzes inNeustadt, obere Karolinen-Straße 119, heute Hauberallee 13, wegenseiner landschaftlich schönen und zugleich zentralen Lage.Ursprünglich war diese Stelle für die Errichtung des pfälzischenLehrerinnenheims vorgesehen worden (18). Die Grundsteinlegung fand am 01.10.1912 statt, wozu der Prinz-RegentLuitpold von Bayern allen Teilnehmenden an der Feier gratulierte. ZweiJahre später erfolgte die Einweihung, am Sonntag, den 10.05.1914, dreiMonate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mehr als tausend Personenaus der ganzen Pfalz nahmen daran teil, namentlich: Der Rabbiner Dr.Berthold Einstein aus Landau, der die Weiherede hielt, der ArchitektSternlieb aus Ludwigshafen, der Dr. Reis den Hausschlüssel übergab.Dieser warf einen Rückblick auf die Entstehung des Baues, dankte denEhrengästen für ihr Erscheinen, vor allem aber den Spendern für dieGewährung der Mittel zum Bau. Anschließend überreichte er denSchlüssel dem Ehrenpräsidenten der Israelitischen KultusgemeindeSpeyer, Sigmund Herz aus Speyer, der nach einer Kurzansprache alserster die Schwelle überschritt. Nach dem Festessen im Saalbau fürfünfhundert Ehrengäste mit anschließendem Festspiel von Kurt Sonnemannwurde abends zum Tanz aufgespielt. Bei einer Pause wurde bekanntgegeben, dass ein „Mister X“ zur Vervollständigung der innerenEinrichtung 1000 Mark gespendet hatte (19), was einen stürmischenBeifall auslöste. Karola Adler übernahm als Oberin die Leitung desAltersheims, das 130 Pflegeplätze bot. Mittlerweile war Friedrich Reis nach Mannheim umgezogen. Er wollte inder „Quadratestadt“ den Kaufmannsberuf ausüben, aber sein labilerGesundheitszustand hatte sich in den zurückliegenden Jahren allesandere als gebessert. Der Husten quälte ihn zunehmend. Schließlichließ ihn sein Vater in eine Lungenheilanstalt in München einliefern,wo er trotz der Pflege durch Fachärzte am 06.12.1910 - wie Julie Mayer(20) - verstarb (21). Er wurde 21 Jahre. Die damals noch unheilbareTuberkulose besiegelte sein Schicksal, und es hat keinen Sinn mit ihmzu hadern. Selten mag Dr. Reis die Begrenztheit der Heilkunst so sehrgespürt haben wie bei diesem Sterbefall, der seine Familie und ihnselbst unmittelbar traf. Sein Sohn Karl war Geschäftsmann geworden,lebte in Heidelberg und gab den Eltern keinen Grund zur Sorge. Zweieinhalb Jahre später fand die Tätigkeit von Dr. Reis einüberraschendes Ende. Die Nachricht kam wie der Blitz aus heiteremHimmel, und viele Speyerer Bürger rätselten darüber, ohne eine Antwortzu finden. Was war eigentlich geschehen? Durch eine Anzeige in der„Speierer Zeitung“ gab der Arzt der Öffentlichkeit bekannt, dass er … „…zum 01.07.1913 seine ärztliche Praxis niederlegen und sich von allen, denen er die langen Jahre als Arzt und Mensch näher stand, verabschieden wolle“. Was ihn zu diesem unerwarteten Schritt bewog, geht aus den Akten nichthervor, aber irgendeine menschliche Beziehung muss da zu Bruchgegangen sein. War es die Menschheitsgeißel Neid oder die Verleumdungdurch Kollegen oder aber ein feindseliger Akt von Rechtsextremistender bestimmte Anlass zu seinem Wegzug? Oder wollte er lediglich mitseiner Frau in der Nähe seines verbliebenen Sohnes leben, der in derNeckarstadt wohnte? Sowohl die Verwaltung des Fröbelkindergartens als auch die derBaumwollspinnerei veranstalteten zu Ehren von Dr. Reis eineAbschiedsfeier. Sie gedachten seiner verdienstvollen Tätigkeit,bedauerten seinen Weggang und überreichten ihm ein Andenken mit demWunsch steten Wohlergehens an seinen neuen Wohnort. Sein Nachfolgerwurde Dr. med. Karl Becker. So gab Dr. Reis nach 25-jähriger Tätigkeit in Speyer seine vertrauteWohnung auf, an der viele Erinnerungen hingen, und zog mit seiner FrauFranziska und deren Mutter Sophie am 07.07.1913 in die Neckarstadt.Diese vielbesungene Stadt mit der ältesten deutschen Universität, ander auch der Kronprinz Karl-Heinrich studiert hatte und wo dieHandlung des erfolgreichen Theaterstücks „Alt-Heidelberg“ von WilhelmMeyer-Förster angesiedelt ist, (22) zog sofort die „Neubürger“ inihren Bann. Kein Wunder! Sie konnten aber nicht ahnen, dass sie geradedort den schwierigsten Lebensabschnitt noch vor sich hatten. DerWunsch steten Wohlergehens, der Dr. Reis bei den Abschiedsfeiernmitgegeben wurde, ging nämlich nicht in Erfüllung. Das Gegenteil warder Fall. Zunächst wohnten die Eheleute in der Bergstrasse 23 rechts vom Neckaram Beginn des Philosophenwegs, von dem der Tourist den schönsten Blickauf Alt-Heidelberg hat. Ob Dr. Reis sich auch an seinem neuen Wohnortals Arzt betätigte und im sozialen Bereich engagierte - er stand nochnicht im Pensionsalter - kann zum derzeitigen Stand der Recherchenicht gesagt werden (23). In der Halbzeit des Ersten Weltkrieges, am 17.12.1916, verstarb SophieDavid, Dr. Reis‘ Schwiegermutter, nach kurzer Krankheit im 79.Lebensjahr. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Speyer beigesetzt,wo auch ihr Mann ruht. Anfang Januar 1918 überreichte Dr. Reis seinemNamensvetter, dem Ehrenvorsitzenden der Israelitischen KultusgemeindeSpeyer, Sigmund Herz (24), anlässlich dessen 90. Geburtstags, unterehrenden Worten ein Album mit Ansichten des Altersheims für die Pfalzin Neustadt (25). Im Mai 1918 erhielt er die für ihn sicherlich unerfreuliche Nachricht,dass der Speyerer Fröbel-Verein e. V. im 44. Jahr seines Bestehens dieLiquidation beschlossen hatte. Das Anwesen hatte das Mutterhaus derDiakonissen übernommen, um dort Diakonissen im Kindergartenberufeauszubilden (26). Das Werk, in das Dr. Reis jahrelang sovielIdealismus und Energie investiert hatte, gab es nicht mehr. Heute istdort der Sitz des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche derPfalz. Nach dem Tode seiner Schwiegermutter bezog Dr. Reis mit seinerFrau, ab 15.02.1922, eine kleinere Wohnung in der nahen Werder-Straße1. Am 06.02.1919 wurde der Sozialdemokrat Friedrich Ebert - eingebürtiger Heidelberger - in Weimar von der Nationalversammlung zumReichspräsidenten gewählt. Ihm schwebte eine rechtsstaatliche,parlamentarische Demokratie vor, anknüpfend an das Jahr 1848, und erwurde deshalb zum Buhmann für Links- und Rechtsextremistische Kreise,die er bekämpfte. Er konnte immerhin die junge Weimarer Republik durchdie Wirren ihrer frühen Jahre lenken. Den Lebensweg dieses Mannes, dervom Schneidersohn und Sattler zum Reichspräsidenten aufgestiegen war,begleiteten Heidelberger Bürger, so auch Dr. Reis, mit Interesse undSympathie. Weil Friedrich Ebert seine Gesundheit vernachlässigt hatte, um wiedereinmal einem von seinen Gegnern angestrengten Verleumdungsprozessbeizuwohnen - sie nannten ihn „Friedrich den Vorläufigen“ - musste eram 27.02.1925 dringend am Blinddarm operiert werden. Leider schon zuspät. Der Reichspräsident verstarb am folgenden Tag in Berlin im Altervon 54 Jahren. Man bestattete ihn auf dem Bergfriedhof seinerHeimatstadt unter vielen anderen großen Deutschen. Sein Geburtshaus inder Pfaffengasse 18 wurde zu einer Gedenkstätte umgestaltet. Weiterhin hoffte Dr. Reis auf die Politik von Gustav Stresemann.Dieser größte Staatsmann der Weimarer Republik hatte im November 1923die Rentenmark eingeführt und damit die Inflation gestoppt, suchteeine Verständigung mit Frankreich durch die Anerkennung seiner neuenOstgrenze und erreichte Deutschlands Mitgliedschaft im Völkerbund.Doch auch diese Lichtblicke erloschen mit Stresemanns Tod am03.10.1929 in Berlin. Acht Monate vor dem Beginn des Tausendjährigen Reiches, am 17.05.1932,feierte Dr. Reis seinen 75. Geburtstag, Zeit, eine Lebensbilanz zuziehen. Wie eine offene Tür Räume miteinander verbindet, so verbindetdie Erinnerung Zeiten, die Gegenwart mit der Vergangenheit.Möglicherweise erschien ihm die Speyerer Zeit beim Rückblick doch alsder noch bessere Abschnitt. Die Gegenwart bot ihm und seiner Familiekeine Sicherheit mehr, und die Zukunft versprach noch unheilvoller zuwerden. Zwei Jahre später, am 18.03.1934, schlief Dr. Reis für immer ein. Erwar verschüchtert und verbittert, ähnlich wie Friedrich Fröbel, dessenKindergärten Preußen ein Jahr vor dessen Tod hatte schließen lassen.Der Mediziner wurde auf dem Bergfriedhof im engsten Familienkreisbestattet. So schloss sich sein letzter Lebensabschnitt von derBergstraße bis zum Bergfriedhof (27). Glücklicherweise musste er nichtzur Kenntnis nehmen, dass sein zweites Werk, das Altersheim für diePfälzer Juden in Neustadt, vier Jahre später beim Novemberpogrom 1938der Brandstiftung zum Opfer fiel, weil sich auch dort im ersten Stockein schlichter grau-grün getäfelter Gebetsraum befand. Die maskiertenTäter verprügelten die Heiminsassen und jagten sie, erbarmungslos, ausdem Haus - in die kalte Winternacht hinaus (28). Panik breitete sichin Sekundenschnelle aus. Dabei kamen zwei betagte Bewohnerinnen umsLeben, deren Tod erst am 18.01.1940 bekannt gegeben wurde. Siegmunds Witwe Franziska überlebte ihn um sechs weit schwierigereJahre. Sie hatte am 09.11.1938 miterleben müssen, wie dieNationalsozialisten die Heidelberger Synagoge an der Ecke GroßeMantelgasse / Lauer-Straße plünderten und in Brand steckten. Ähnlichesgeschah auch mit der Synagoge in Speyer und in Neustadt sowie mit demIsraelitischen Altersheim für die Pfalz, das als Denkmal jüdischerWohlfahrtspflege bestehen bleiben sollte. Ahnungsvoll verfolgte siewie die NS-Machthaber in ihrem Größenwahnsinn mit dem Überfall aufPolen am 01.09.1939 den Zweiten Weltkrieg entfesselten. Es wurdewieder kein Blitzkrieg. Er dauerte sechs Jahre und einen Tag. In jederStunde verloren 1045 Menschen ihr Leben. Insgesamt kamen dabei 55Millionen Opfer um. Die Anfangssiege der Wehrmacht in Polen und beim Westfeldzug trugennicht dazu bei, den Verfolgungsdruck der Nazis gegenüber den Bürgernjüdischen Glaubens zu mindern. Im Gegenteil. Im Oktober 1940 gehörteauch Franziska Reis zu den 280 Heidelberger Juden, die die braunenMachthaber im Rahmen der Bürckel / Wagner-Aktion insInternierungslager Gurs, nördlich der Pyrenäen, in dem von 1940 bis1942 von deutschen Truppen unbesetzten Teil Frankreichs, deportierten. Traf sie dort auf frühere Bekannte aus ihrer Speyerer Zeit wieder? Wiesie dort das Lagerleben bewältigte, ob sie sofort resignierte odersich den Lagerzuständen entgegenstellte, ist nicht überliefert. Sieging am 03.01.1941 an der damals grassierenden Ruhrepidemie zugrunde.Die 79-jährige Frau wurde in eine Holzkiste gelegt und vonLagerinsassen auf dem dortigen langgestreckten Internierten-Friedhofbeigesetzt, 1200 km von ihrer Heimaterde entfernt. Ein grauer,gleichförmiger Grabstein mit Vor- und Nachname, Geburts- undSterbejahr sowie dem letzten Wohnort erinnert heute noch an ihrSchicksal (29). (1) Vgl. Kurzporträt Nr. 4. (2) Vgl. Kurzporträt Nr. 9. (3) Jüdische Ärzte kannten die Werke der alten Griechen Hippokratesund Galen und wirkten oft als Leib- und Hofärzte sowie am Hof derPäpste, obwohl dies offiziell verboten war. Drei Namen reichen aus, umdiese Tatsache zu erhärten: Rabbi Nathanael war Saladins Leibarzt,obwohl es auch ausgezeichnete muslimische Ärzte gab, Jakob Mantinostand im Dienste des Papstes Paul III. und Jakob Henle war der LehrerRobert Kochs. Zu Beginn der NS-Gewaltherrschaft gab es in Deutschlandca. 8000 Ärzte, von denen die meisten emigrierten. (4) Vgl. Kurzporträt Nr. 3. (5) Vgl. „St.- Vincentius-Krankenhaus Speyer 1905-2005 von Karl HeinzDebus unter Mitarbeit von Doris Debus“, S.69. (6) Vgl. die Speierer Zeitung vom 24.04.1889. (7) Die Baumwollspinnerei ist ein stattlicher Bau mit hohen, hellenRäumen und verfügte damals über 46. 108 Spindeln, zwei Dampfmaschinenund eine Turbine. Im Jahre 1905 waren dort 300 Arbeitskräftebeschäftigt, überwiegend Frauen. Nach und nach entstanden sozialeEinrichtungen: Arbeiterwohnungen, Bäder, Kantine, Kindergarten,Gesangverein mit dazugehöriger Fahne und Bibliothek. Die Spinnereihatte die Telefon-Nr. 2. Trotz eines Brandes, der die Spinnerei am15.06.1904 zum Teil heimgesucht hatte, konnten die Beschäftigten nachReparaturarbeiten ihre Tätigkeit fortsetzen. Erst am 05.10.1967schloss die Spinnerei endgültig ihre Tore. Heute dient dasfunktionsfähige Gebäude dem Historischen Museum der Pfalz alsWerkstatt und Depot. (8) Vgl. das Adressbuch der Stadt Speyer 1911. (9) Vgl. Kurzporträt Nr. 16. (10) Vgl. die Speierer Zeitung vom 02.10.1889. (11) Ebenda vom 23.04.1912. (12) Es war ein privater Kindergarten, aber er sollte sich beigünstiger Aufnahme seitens der Einwohnerschaft zu einem StädtischenKindergarten entwickeln. (13) Vgl. Elisabeth Schleicher-Landgraf im „Die Juden von Speyer“,2004, S. 211. (14) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer am Rhein, 1909. (15) Vgl. Kurzporträt Nr. 8, Anmerkung 10. (16) Der Lehrersohn Leo Waldbott, 1867 in Oberlustadt geboren, wurdeselbst Lehrer, war Kantor der Speyerer Gemeinde, zeitweise Organistder Synagoge und Dirigent des Synagogen-Chors sowie Bibliothekar derGemeindebibliothek. Er leitete als Vorsitzender den Verein jüdischerLehrer der Pfalz. Gelegentlich vertrat er den Bezirksrabbiner, wenndieser verhindert war. Er war es auch, der die Initiative zur Gründungeines jüdischen Altersheims ergriff. Wenige Wochen nach demNovemberpogrom 1938 emigrierte er von Mannheim aus zu seinen SöhnenEmil und Georg in die USA, wo er im Kreise seiner Familie 1940,73-jährig, verstarb. (17) Vgl. die Speierer Zeitung vom 05.04.1910. (18) Ebenda vom 29.11.1910. (19) Ebenda vom 11.05.1914. (20) Vgl. Kurzporträt Nr. 5. (21) Vgl. den nachträglichen Sterbevermerk im Geburtsregister 1889/Nr. 434 des Standesamtes Speyer. (22) Diese Universität mit dem über dem Eingang thronenden Schriftzug„Dem lebendigen Geist“ hatte gerade in der Weimarer Republik denhöchsten Anteil jüdischer Dozenten und Studenten. Die Nazis ersetztenden Schriftzug mit dem Spruch: „Dem deutschen Geist“. Die Hochschuleerlebte ihr dunkelstes Kapitel bei der Bücherverbrennung auf demUniversitätsplatz im Mai 1933. In diesem Jahr 2011 wird die Hochschule625 Jahre alt. (23) Diese Information verdankt der Autor einer Mitteilung desStadtarchivs Heidelberg vom 16.04.2009. (24) Vgl. Kurzporträt Nr. 3, Anmerkung 14. (25) Vgl. die Speierer Zeitung vom 07.01.1918. (26) Die Zeit des Nationalsozialismus brachte jedoch einvorübergehendes Ende der Diakonissenausbildung im Kindergartenberufe.Denn jede Form von Sozialarbeit war in ihrem Selbstverständnis mit demNationalsozialismus eigentlich unvereinbar. Vgl. „150 JahreDiakonissen Speyer, Jubiläumsfestzeitung“ als Beilage der Zeitung „DieRheinpfalz“ vom 06.09.2009. (27) Der Bergfriedhof in der Rohrbacherstraße am Fuß des Königsstuhlsstammt aus dem Jahr 1844 und ist der Hauptfriedhof der Stadt. Dortwurde 1876 der jüdische Friedhof eröffnet. Ein Denkmal erinnert an diein der NS-Zeit ermordeten Heidelberger Juden. (28) Auf Veranlassung von Sara Lehmann, der Vorsitzenden des JüdischenFrauenvereins, fuhr am 10.11.1938 ein Krankenwagen vom Roten Kreuz dietraumatisierten Greise und Kranken in das geräumige KrankenhausMannheim, Collini-Straße 47-53. Vgl. Karl Fücks / Michael Jäger in„Synagogen der Pfälzer Juden“ Vom Untergang ihrer Gotteshäuser undGemeinden, 1988. (29) Grab Nr. 516. 17.10.2011 9. THEODOR ALTSCHUL Er kam am 11.07.1857 in Speyer zur Welt, einen Monat, nachdem dieFertigstellung der neuen Westfassade des Domes unter dem „Donner derBöller“ festlich begangen wurde. Damit war der Dombau endlich undglücklich wieder vollendet. Noch immer war die EinweihungsfeierStadtgespräch. Theodor (1) war der Enkel von Abraham und der einzigeSohn von Gabriel Altschul (2), die beide in Rülzheim (3) geborenworden waren. Theodors Mutter hieß Flora, geb. Levy, und stammte ausMarmoutier / Elsass (4). Er hatte noch drei Schwestern: Adelheide,geb. 1844, Fanny, 1847, und Sara Eugenia, 1852. Seine Mutter verstarb im Alter von 63 Jahren am 18.07.1878 und wurdeim „Judengärtel“ am St.-Klara-Kloster-Weg beigesetzt. Im Unterschiedzu ihr erreichte sein Vater Gabriel ein fast biblisches Alter. Er tatseinen letzten Atemzug im 86. Lebensjahre, am 11.01.1895, aufgrundeiner Lungenentzündung, die damals zumal bei älteren Leuten dasTodesurteil bedeutete. Er hatte seine Frau immerhin um siebzehn Jahreüberlebt. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem neuen jüdischenFriedhof an der Wormser-Landstraße in der dritten Reihe der UnterenAbteilung. Am 09.05.1883 heiratete Theodor Altschul in der RomantikmetropoleHeidelberg die um ein Jahr jüngere Auguste, geb. Baer, aus demweinbekannten Ort Ihringen bei Breisach. Aus dieser Ehe gingen dreiSöhne, Ludwig, geb. 1884, Julius, 1886, und Gustav, 1895 und zweiTöchter, Flora, geb. 1887, und Martha, 1891, hervor. Er trat alsTrauzeuge auf, als seine Schwester Sara, genannt Eugenia, am05.07.1886 in Speyer den Witwer August Heymann aus Dortmund heiratete. Altschul wurde Getreidehändler von Beruf, betrieb also einen Handel,der zum ältesten und bedeutendsten Zweig des Handels mitlandwirtschaftlichen Erzeugnissen gehört. Er wohnte in der KleinenPfaffengasse 3, nur wenige Schritte vom Königsplatz (6) mit demBrezelbrunnen und vom Judenbad entfernt. Über seine Mutter unterhielter enge Beziehungen zum Reichsland Elsass-Lothringen, denn er empfahlden Kunden in einer Anzeige der „Speierer Zeitung“ (7) „neuesgrobkörniges Elsässer Welschkorn in jeder Menge günstig bei ihmeinzukaufen“. In einer weiteren Anzeige (8) bot er als „bestens zurSaat geeignete Getreide an“: Gerste, Hafer, Wicken, alle Sorten vonKleesamen, Pferdezahnmais und Esparsette (9) in jeder Menge undbesonders preiswert unter voller Garantie für Keimfähigkeit. FürWiederverkäufer empfahl er eine ganz günstige Bezugsquelle. Nebenberuflich betätigte sich Theodor Altschul, um seine Einkünfteetwas aufzubessern und so seine immer größer werdende Familie besserzu versorgen, als Hauptagent des Norddeutschen Lloyd in Bremen (5) undder „Germania“, Lebensversicherungsgesellschaft mit Sitz in der altenHansestadt Stettin in Pommern. Die Ehe seiner jüngsten Schwester Eugenia, die dem Sohn Theodor, geb.1887, und den Töchtern Flora Adele, geb. und gest. 1892, und Adele,geb.1894, das Leben geschenkt hatte, verlief doch nicht so, wie essich Braut und Bräutigam am Hochzeitstag wünschen. Sie wurde am14.02.1896 beim Gericht der Hanse Stadt Hamburg aufgelöst. Ihre beidenSchwestern scheinen unverheiratet geblieben zu sein. Als Speyerer Hauptagent des Norddeutschen Lloyd und der „Germania“ kamTheodor häufig mit zahlreichen Menschen zusammen, die ihn um seinenRat bezüglich einer Auswanderung baten. Sie wollten gerade solcheFragen mit einem Fachmann ausführlich besprechen. Er hörte ihrevielfältigen Beweggründe, die sie zu dieser nicht leichtenEntscheidung drängten und machte sich selbst Gedanken darüber. Sichererwähnte er dieses Thema auch im Familienkreis und besprach die Vor-und Nachteile einer Emigration, die stets eine große Herausforderungdarstellt. Es gab auch Emigranten, die nach kurzer Zeit in die alteHeimat, frustriert und niedergeschlagen, zurückkehrten. Fest stand alsPluspunkt nur, dass der technische Fortschritt im Schiffbau dieÜberfahrt in die Neue Welt von Jahr zu Jahr erleichterte. Zudemengagierte sich Theodor in der Kommunalpolitik. Auf diesem Gebieterhielt er bei den Urwahlen zum Bayerischen Landtag am 11.07.1905 imweißen Stadtviertel immerhin 84 Stimmen (10). Der 10.05.1905 stellte einen herausragenden Tag dar im Leben desEhepaars Altschul. Im Kreise seiner Angehörigen feierte es das froheFest der silbernen Hochzeit. Die zahlreichen Freunde und Bekanntebrachten dem Jubelpaar anlässlich dieses Ereignisses herzlicheGlückwünsche dar. Die Presse schloss sich an und wünschte dem HerrnGroßkaufmann Theodor Altschul und seiner Gemahlin, dass ihr Lebensbundnoch recht viele Jahre mit Glück und Zufriedenheit gesegnet sei (11). Sein ältester Sohn Ludwig wurde nach dem Besuch der Volks- undRealschule, die er mit 16 Jahren 1900 abschloss, Prokurist in derFirma seines Vaters mit Telefon-Nr. 500. Als ein Mann ehrlichenoffenen Wesens vermählte er sich am 18.11.1909 in Koblenz mit der22-jährigen Karolina Cornelia, geb. Landau, aus Camberg bei Limburg.Im folgenden Jahr kam am 12.11.1910 ihr Sohn Hans Erich in Speyer zurWelt. Das unbeschwerte Eheglück sollte allerdings nur wenige Jahredauern. Ludwig, wie der Vater politisch interessiert, wurde Mitglieddes Nationalliberalen Vereins Speyer - die Mehrheit der deutschenJuden neigte dem bürgerlichen Liberalismus - und engagierte sichpolitisch auch in seiner Freizeit mit Leib und Seele. Aus Presse und Rundfunk erfuhr Familie Theodor konsterniert von demfurchtbaren Unglück, das sich im eisigen Nordatlantik am 14.04.1912mit der „RMS Titanic“ ereignete. Diese völlig unerwartete Katastrophewurde zum Symbol für die Unzulänglichkeit der Technik, bedeutete einenschweren Rückschlag für die Schifffahrt und weckte neue Ängste inBezug auf Auswanderung. Theodor und seinen Familienangehörigen tatendie über 1 500 Opfer leid, die so tragisch umkamen. Einige von ihnenhatte Theodor möglicherweise persönlich beraten. Erst am 01.09.1985fand ein Team von französischen und amerikanischen Forschern das Wrackdes britischen Passagierdampfers in über 4000 Metern Tiefe vor derKüste Neufundlands. Aller Gefahr zum Trotz emigrierte Theodors jüngere Tochter Martha am16.11.des gleichen Jahres auf dem Schiff „Amerika“ über Cherbourg nachNew York (12), Seekrankheit hin oder her. Ihr erster Eindruck von derNeuen Welt war die sechsundvierzig Meter hohe Freiheitsstatue, einGeschenk Frankreichs an die junge Nation, und die AufnahmestationEllis Island. Dort wurde sie, wie alle Immigranten, ärztlichuntersucht und intensiv befragt. Sie fiel nicht durch. Späterheiratete sie in den Vereinigten Staaten den Kaufmann Alfred Stern. Am 20.09.1913 verließ auch ihr Bruder Julius auf der „GeorgeWashington“ das Deutsche Reich über Bremerhaven, damals mit Hamburgder Hauptemigrantenhafen. Sie trugen als „German Jews“ mit dazu bei,dass die Zahl der Juden in Speyer von 1910 bis 1933 von 520 auf 269und bis 1939 auf 81 sank. Die Vorstellung, im Rahmen der zweiten„Alija“ (13) 1904 bis 1919 nach dem damaligen Palästina zu emigrieren,war den beiden Altschul völlig fremd, was ihr Desinteresse für denZionismus unterstreicht. Julius erreichte am 29.09.1913 New York mitdem Ziel St. Louis im US-Bundesstaat Missouri. Er nahm aber seinenWohnsitz in der 212 Fifth Avenue, New York City, N.Y. und bliebunverheiratet. Geschäftlich reiste er oft über den großen Teich hinund her, wie aus zahlreichen Passagierlisten hervorgeht (14). Schon im Vorfeld des Ersten Weltkriegs sprachen die Menschen von einemgroßen Konflikt, der nach Lage der Dinge bald unvermeidlich würde wieein schweres Erdbeben oder eine Jahrhundert-Überschwemmung. Als er am01.08.1914 ausbrach, verschlechterte sich der Alltag der Menschenschlagartig, und neue Pflichten und Aufgaben kamen hinzu. Die jungenMänner rückten zum Kriegsdienst ein, Frauen nahmen in den Fabrikhallenihren Platz, Lebensmittel wurden rationiert und Karten eingeführt. DerSchulunterricht fand in einem drei-vierschichtigen Turnus statt. Mansammelte und opferte viel für die kämpfenden Truppen. BeiSondermeldungen der Obersten Heeresleitung über militärische Erfolgein Belgien, Frankreich, Russland und Serbien wurden Fahnen gehisst,Kirchenglocken geläutet und Siegesfeiern abgehalten. Als ältester Sohn der Familie hatte sich Ludwig dazu verpflichtetgefühlt, dem Vaterland zu dienen und so ein Beispiel derPflichterfüllung zu geben. Er tat mehr als seine Pflicht. DerWestfeldzug erwies sich nämlich nicht als der erwartete „Ausflug nachParis“, wie die Soldaten an ihre Eisenbahnwaggons mit weißer Kreidegeschrieben hatten. Ludwig kämpfte als Feldwebelleutnant der Reservein einem PR. Pionier-Regiment in Flandern, dem Schauplatz blutigerSchlachten, weshalb die Franzosen den Ersten Weltkrieg „La grandeguerre“ und die Engländer „The great war“- den „Großen Krieg“ -nannten. Schon im Januar 1915 (15) wurde er für hervorragend tapferes Verhaltenin den Kämpfen in Flandern durch die Verleihung des Eisernen Kreuzes2. Klasse ausgezeichnet. Zusätzlich verdiente er sich das bayerischeMilitärverdienstkreuz mit Krone und Schwertern. Der Krieg warmittlerweile zu einem dreckigen und feuchten Grabenkrieg mutiert. DieKämpfe forderten ständig größere Opfer und richteten schwersteZerstörungen an, ohne dass man Gelände damit gewinnen konnte (16). Am 15.09.1915 beklagte Theodor Altschul den Tod seiner SchwesterEugenia, die 63-jährig nach kurzer Krankheit in St.Vincentius-Krankenhaus verstorben war. Sie wurde auf dem südlichenFeld des jüdischen Friedhofs in Speyer bestattet. Mittlerweile tobte der Krieg mit unverminderter Härte weiter. Ludwigbesiegelte als Feldwebel-Leutnant die Liebe zum Kaiserreich mit demTode, am 25.07.1917, nach fast drei Jahren vorbildlichen Einsatzes. Erwar nur 33 Jahre (17) alt geworden. Er hinterließ eine junge Frau inTrauer und ein sechsjähriges Kind. Die Beisetzung fand in Koblenzstatt, während der Krieg weiterhin seine Geißel über die Völker dies-und jenseits des Ozeans schwang. Ludwigs Name ist jedoch nichtvergessen. Er steht auf der Gedenkplatte zu Ehren der im ErstenWeltkrieg gefallenen Absolventen der Speyerer Realschule, die in derAntikenhalle nördlich des Domes aufgestellt wurde. Ein gutes Jahr nach Kriegsniederlage und verschärfter wirtschaftlicherLage, als Menschen buchstäblich verhungerten, verstarb TheodorAltschul am 03.12.1919 in Heidelberg, wo er auf Genesung von seinemschweren Herzleiden gehofft hatte. Der Tod ereilte ihn unerwartetschnell, wie seine Mutter, im 63. Lebensjahr (18). Er wurde auf demnördlichen Hauptweg des jüdischen Friedhofs in Speyer bestattet.Seinen Grabstein ziert der letzte Satz aus dem Spruch von ImmanuelKant: „Tot nur ist, wer vergessen wird“. Dem geht voraus: „Wer imGedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern:“ Ein Jahr nach Theodors Ableben, am 15.09.1920, erhielt Julius dieUS-Staatsangehörigkeit, die er vermutlich mit Rücksicht auf seinenVater nicht davor beantragt hatte. Am 09.03.1921 bekam er dieReiseerlaubnis gültig für die Niederlanden, Frankreich undGroßbritannien und handelte mit Partnern in diesen Ländern. In Speyer übernahm sein jüngster Bruder Gustav die Futtermittel „engros“, die Kolonialwarenhandlung und die Agenturen des NorddeutschenLloyds, Bremen (19), der Magdeburger-Feuerversicherungsgesellschaft,Magdeburg, sowie der Lebensversicherungsgesellschaft Feuerversicherung„Atlas“, Ludwigshafen, damals die einzige pfälzische Großstadt. AlleHoffnungen der Familie schienen nun auf seinen jungen Schultern zuruhen. Zum Gedenken an die zwölf Speyerer Mitbürger jüdischen Glaubens, dieim Ersten Weltkrieg für Kaiser und Reich gefallen waren, schuf derrenommierte jüdische Bildhauer Benno Elkan (20) eine Namenstafel. Siewurde im Jahre 1923 an der Synagoge angebracht. Große Aufregung herrschte bei Familie Altschul, als derWittelsbacher-Hof, nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt, amAbend des 09.01.1924 Tatort eines Verbrechens wurde. Im Speisesaal desHotels war Franz Josef Heinz aus Orbis, der „Präsident der Regierungder Autonomen Pfalz“, von Rechtsextremisten erschossen worden. Bei demSchusswechsel starben an diesem Abend die Angreifer Franz XaverHellinger und Ferdinand Wiesmann (21) sowie zwei weitere Separatisten.Heinz wollte das linke Rheinufer vom Rest des deutschen Reichesabtrennen und auf diesem Wege von der französischen Besatzungsmachtgünstigere Lebensbedingungen für die Menschen erhalten. Aber dieSeparatisten hatten beim nationalgesinnten Volk kaum Rückhalt, bliebensich selbst überlassen, und so brachen die Ziele der Bewegung wieSeifenblasen in sich zusammen. Eine Gedenktafel am Wittelsbacher-Hoferinnert heute noch interessierte Passanten an diese tragischeBluttat. Zwei Jahre später, im Februar 1926, erschütterte plötzlich eineNachricht aus Übersee die schon mehrmals leidgeprüfte Witwe Altschul,während sie sich bei ihrer Tochter Flora in Nürnberg an der Pegnitzaufhielt. Ihr Sohn Gustav besuchte gerade liebe Freunde in St. Louisim US-Bundestaat Missouri (22), als er, wie sein Vater sechs Jahredavor, infolge eines Herzschlages aus dem Leben gerissen wurde (23).Gustav erreichte nicht einmal das dreißigste Lebensjahr und war somitnoch drei Jahre jünger als sein im Ersten Weltkrieg gefallener Bruder. So wurde es um Theodors Frau Auguste still und stiller. Ihr Herz hörteauf zu schlagen am 02.04.1932 in Nürnberg im Alter von 74 Jahren. IhrLeichnam wurde nach Speyer überführt und auf dem jüdischen Friedhofneben dem Grab ihres Mannes beigesetzt. So blieben ihr die Schikanenund Gräuel der Nazibarbarei erspart. Mitten im Zweiten Weltkrieg starbihr Sohn Julius am 16.04.1942 in New York. Nach rund 90 Jahren gab es in der Domstadt Speyer keine FamilieAltschul mehr, wohl noch rund zweihundertsiebzig Bürger jüdischenGlaubens, deren Tage allerdings schon gezählt waren, ohne dass sie esirgendwie vorausahnen konnten. (1) Der Name Theodor gewann im 19. Jahrhundert größere Verbreitungdurch die Begeisterung für Theodor Körner. Dieser Dichter desFreiheitskampfes gegen Napoleon und Patriot verfasste Kriegslieder,Trauerspiele und Lustspiele. Im August 1813 fiel er, 22-jährig, beiGadebusch /Mecklenburg. (2) Der Nachname Altschul geht zurück auf die älteste Synagoge - sieheißt auf Jiddisch Schul - in Prag und legt die Vermutung nahe, dassdiese Familie ursprünglich von dort stammte oder sich dort durchSchenkungen besonders verdient gemacht hatte. Das Gleiche gilt für denin Speyer auch bekannten Namen Altschüler. (3) Vgl. Kurzporträt Nr. 7, Anmerkung 6. (4) Marmoutier liegt im Unterelsass, etwa 35 km nordwestlich vonStraßburg und neun Kilometer südlich von Saverne / Zabern. Zu Deutschheißt der Ort Mauersmünster nach dem Abt Maurus, einem Schüler desOrdensgründers Benedikt von Nursia. Die Kirche St. Peter und Paulstammt aus dem 11. Jahrhundert und besitzt einen mächtigen Westbausowie einen Chor in historisierenden gotischen Formen von 1761-67. DieOrgel baute Andreas Silbermann aus Straßburg. In Marmoutier befandsich eine der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden desUnterelsass, da vermutlich hier bereits im 10. Jahrhundert Judenlebten, die als Kaufleute für die hiesige Abtei tätig waren. Mitte des19. Jahrhunderts gab es ca. 500 Juden, immerhin 20% derKleinstadtbevölkerung. Um 1820 wurde die Synagoge errichtet, die nochvorhanden ist, und Marmoutier wurde Sitz eines Rabbinats. Westlich desOrtes liegt der jüdische Friedhof mit noch etwa 500 Gräbern. Zu Beginndes Zweiten Weltkriegs hielten sich nur noch ca. 50 Juden hier auf.Die meisten von ihnen wurden in die Vernichtungslager Osteuropasdeportiert. (5) Vgl. die Speierer Zeitung vom 10.10. 1906. (6) Der Königsplatz hat in seiner langen Geschichte verschiedeneNamen getragen, von Moritz-Platz um 1806, über Königsplatz zehn Jahrespäter und Josef-Bürckel-Platz in der NS-Zeit ab 1938 nach demdamaligen Gauleiter, bis er 1945 wieder den Namen Königsplatz erhielt.Vgl. „Geschichte und Geschichten von Speyerer Straßen und Plätzen“ vonWalter Goldschmidt. (7) Vgl. die Speierer Zeitung von 1885. (8) Ebenda vom 21.03.1886. (9) Bei der Esparsette [frz.] handelt es sich um eine mehrjährigeFutterpflanze, die auf kalkhaltigem Boden gedeiht und rosa blüht. Siegehört zu den besten Futterpflanzen und wirkt durch ihre tiefenWurzeln bodenverbessernd. Die Blüten bieten den Bienen viel Honig. (10) Vgl. die Speierer Zeitung vom 12.07.1905. (11) Ebenda vom 09.05.1908. (12) Ebenda vom 17.06.1899. Diese Linienreederei,gegründet im Geburtsjahr von Theodor Altschul, bediente in 6 bis 7Tagen alle wichtigsten Häfen der amerikanischen Ostküste. Siebeförderte Passagiere auch nach Argentinien, Brasilien und nachOstasien. Im Jahre 1884 erhielt sie erstmals das Blaue Band, dieAuszeichnung für das schnellste Schiff der Transatlantikroute. 1938besaß der Norddeutsche Lloyd 85 Seeschiffe mit insgesamt 618.000 BRT. (13) Das hebräische Wort Alija bedeutet„Aufstieg“ in dem Sinne, dass wer in das damalige Palästinaimmigrierte, erlebte eine ethische Erhebung seiner Persönlichkeit undtrug dazu bei, ein erstrebtes Ideal zu erreichen. Man zählt fünfAlijot vom Beginn der zionistisch motivierten Einwanderung bis zurGründung des Staates Israel 1948, und die Alijot danach. (14) Freundliche Mitteilung des „DeutschenAuswanderer Hauses“, Bremerhaven, vom 21.04.2010. (15) Vgl. die Speierer Zeitung vom 23.01.1915. (16) Zur Veranschaulichung dieser Tatsachegenügen nur die Namen der Schlacht an der Somme und um die FestungVerdun in Frankreich sowie bei Ypern in Belgien, die symbolischenCharakter gewonnen haben. Dabei wurde die Artillerie zur Waffe Nr. 1und deutsche Flugzeuge in geschlossenen Kampfgeschwadern wurdenerstmalig eingesetzt. Leider dienten diese Schlachten nicht zurWarnung vor dem Zweiten Weltkrieg, der an allen Fronten noch grausamerund länger geführt wurde. (17) Vgl. die Speierer Zeitung vom 28.07.1917.Der Name Ludwig Altschul ist auf der Gedenktafel verzeichnet, die sichin der Antikenhalle nördlich des Doms befindet. (18) Vgl. die Todesanzeige in der SpeiererZeitung vom gleichen Tage. (19) Vgl. das Gewerbe-Anmelderegister Speyer vom31.12.1919. (20) Benno Elkan (1877-1960) begann seineKünstlerausbildung als Maler. Nach einem Aufenthalt in Rom 1907-1910wurde er Bildhauer. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Plaketten,Medaillen, Gefallenendenkmäler und Bildnisbüsten wie die von WaltherRathenau. (21) Der Separatist Lilienthal erschoss diebeiden Attentäter. Sie ruhen seit 1931 in einem gemeinsamen Grab aufdem Speyerer Friedhof. (22) Die Stadt liegt auf dem rechtenMississippi-Ufer und zählte um 1938 eine Bevölkerung von ca. 830 000Einwohnern, davon 50 000 Juden. Der Staat wies nicht nur mehrereIndustrien auf, sondern auch Anbau von Getreide, Baumwolle undViehwirtschaft. Die Umschrift des Staatswappens lautet: „United westand, divided we fall“. (23) Vgl. die Speierer Zeitung vom 13.02.1926. Foto: sim 06.10.2011 8. ISIDOR ROOS Familie Roos übersiedelte an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ausStraßburg / Elsass nach Speyer und gehörte wie Familie David, Dreyfussund Süssel zu den alteingesessenen Juden der Domstadt. Isidor Roos kamam 13.05.1855 in Speyer zur Welt, als der Komponist Franz von Liszt,geb.1811, gest.1886, das Klavierkonzert in Es-Dur vollendet hatte.Deutete dieses Vorzeichen auf das spätere Hobby des neuenErdenbürgers, nämlich die Musik? Isidor war der zweite Sohn des Simon- er war Gewürzwarenhändler - und dessen Ehefrau Wilhelmina, genanntMinka, geb. Weil, aus Külsheim im Kreis Tauberbischofsheim. Er hatteeinen siebzehn Jahre älteren Bruder namens Louis aus der ersten Eheseines Vaters mit Carolina, geb. Roos, aus Straßburg / Elsass (1). Dadie beiden Brüder keine weiteren Geschwister hatten, hingen sie einLeben lang wie Pech und Schwefel zusammen, so dass sie auf eine Eheund eigene Familie verzichteten. Nach dem Schulbesuch trat Isidor im Jahre 1869 - mit 14 Jahren - indie Schuhfabrik seines Cousins Bernhard Roos ein, in der damaligenHundsgasse, heute Gutenberg-Straße, im Schatten des Altpörtels. Erwurde sorgfältig angelernt und machte gleich vielversprechendeFortschritte. In dieser Fabrik waren um die Wende zum vorigenJahrhundert 180 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt. Es war allesandere als eine leichte Arbeit. Die Beschäftigten saßen ununterbrochenund vornüber geneigt an den lauten Maschinen und mussten höchsteKonzentration beim Zuschneiden, Steppen und Schnüren des Ledersaufbringen. Die Männer arbeiteten fast 57 Stunden, die Frauen 55 1/2Normalstunden in der Woche (2). Am 09.05.1875 beklagte Isidor den Tod seines Vaters, der im Alter von69 Jahren gestorben war und auf dem „Judengärtel“,St.-Klara-Kloster-Weg, bestattet wurde. Von nun an blieb Isidor nurseine damals 56-jährige Mutter als Stütze und Begleiterin durch dasLeben. Mittlerweile hatte er sich aber in der Firma aufgrund seinermenschlichen und fachlichen Qualitäten so emporgearbeitet undausgezeichnet, dass ihm sein Cousin den Posten des Prokuristenanvertraute. Bernhard hatte mit ihm wahrlich einen guten Griff getan!Er wohnte in der Ludwigstraße 8, sein Bruder Louis betätigte sich alsKommissionär im Getreidehandel, ein Berufskollege von Theodor Altschul(3), und hatte die Wohnung in der Gutenberg-Straße 20. Wie die Brüder Theodor und Adolf David (4) beschäftigte sich Isidor inseiner Freizeit zur Leibertüchtigung als Mitglied des „TurnvereinsSpeier 1861 e.V.“. Für ihn galt der klassische Spruch von DecimusJunius Juvenalis: „Mens sana in corpore sano“ d.h. ein gesunder Geistin einem gesunden Körper. Übungsstunden der aktiven Turner fandenDienstag und Freitag von 20.00 bis 22.00 Uhr statt. Aber Isidorpflegte vor allem die schönen Künste, besonders die Musik, diese„höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“ (5). Sieüberwindet sogar streng bewachte Grenzen und verbindet Völkermiteinander. Einen unersetzlichen Verlust erlitt Isidor am 08.07.1892 als seineMutter, der er seine vorzügliche Erziehung und humorvolle Veranlagungverdankte, im Alter von 73 Jahren verstarb. Sie wurde in der unterenAbteilung des neuen jüdischen Friedhofs (6) an der Wormser Landstraßebeigesetzt. Jetzt musste er ohne ihre Stütze den vor ihm liegenden Wegweiter gehen, wie sie es ohne ihren Mann siebzehn Jahre lang bewältigthatte. Isidor war unter den Mitgliedern des Gesangvereins „Liedertafel“ (7),zu der sein Cousin Bernhard und dessen Söhne August und Eugenebenfalls gehörten, seit 1882 als Erster Tenor aktiv und eine markanteund beliebte Persönlichkeit geworden. Ein 1897 von ihm aufgenommenesFoto zeigt einen Herrn mittleren Alters mit Oberlippenbart, gewelltemHaar und verträumtem Blick, der ein Musikblatt in Händen hält und imKreise seiner Tenorkollegen sitzt. Sie hatten alle eine Begabung zumSingen, und wenn „ein Lied in allen Dingen schläft“ (8), so verstandensie es zu wecken. Kein Wunder also, dass er Anfang 1900 zum Ersten Vorsitzenden desSynagogen-Chor-Vereins gewählt wurde. Der Verein hatte die Aufgabe,neben den gottesdienstlichen Funktionen die Geselligkeit in der„Kehilla“ (9), zu pflegen. Leopold Klein (10) wirkte als Kassierer,Julius Seligmann (11) als Schriftführer und der Nichtjude Marcus Stahl(12) als Dirigent und Organist. In seltener brüderlicher Liebe war Isidor seinem Bruder Louis, derseit 1860 auch dem Synagogen-Chor als aktives Mitglied angehörte,zugetan, fast so, wie Leas Sohn Ruben seinem Bruder Josef oder Theovan Gogh seinem Bruder Vincent. Stets war Isidor um Louis‘ Wohlergehenherzlich besorgt, nicht der ältere Bruder um den jüngeren, auch nichtder Kommissionär um den Prokuristen, sondern umgekehrt. Aber auch denArmen und Verlassenen der Stadt stand Isidor in zahllosen Fällen zurSeite. Mit einem Wort, Isidor war seinen Mitmenschen tatsächlich ein„Isis-Geschenk“, was sein Vorname griechischen Ursprungs bedeutet. Mitanderen Worten, er wurde allen Menschen zum Segen (13). Der NameLouis, französische Form von Ludwig, zeugt vom starken Einfluss derfranzösischen Sprache in der Pfalz des 19. Jahrhunderts. Der NachnameRoos wird von der Name „Rose“ abgeleitet (14). Als Isidor am 13.05.1905 seinen 50. Geburtstag feierte, erhielt er vonallen Seiten der Bevölkerung Geschenke in reicher Zahl. Von seinerFirma beispielsweise bekam er ein schweres, silbernes Essbesteck; vondem gesamten Arbeiterpersonal der „Firma Bernhard Roos“ seinlebensgroßes Porträt in einem prächtigen Rahmen; von seinen Freundeneine hochfeine altdeutsche Standuhr, ferner von der „Liedertafel“einen prachtvollen Weinkrug. Als Abschluss des feierlichen Tagesfolgte am Abend ein gemütliches Zusammensein in der Wohnung desJubilars, zu welchem er seine zahlreichen Freunde eingeladen hatte undsie auch erschienen waren. Die Presse wünschte Isidor Roos, dass er„seinem Wirkungskreis, seinen Angehörigen und Freunden noch rechtviele Jahre erhalten bleiben möge.“ (15) An Veranstaltungen des Synagogen-Chor-Vereins war Isidor maßgeblichbeteiligt. So im März 1906 an einer Theater-Veranstaltung im „CaféWaibel“, die „stürmische Heiterkeit“ erzielte. Aus Anlass deshundertsten Geburtstages von Gabriel Riesser am 02.04.des gleichenJahres sorgte er dafür, dass das Porträt von Josef Feiner über diesenherausragenden jüdischen Juristen und Politiker unter den Mitgliedernder Israelitischen Kultusgemeinde Speyer Verbreitung fand (16). Isidorwirkte am 17.11. des gleichen Jahres, dem 39. Stiftungsfest derGesellschaft „Lyra“, im „Wittelsbacher Hof“, Ludwigstraße 2, mit. Beidem Vortrag einiger Lieder, die mit Beifall aufgenommen wurden,begleitete ihn am Klavier meisterhaft Felix Hildesheimer (17). Am 08.01.1907 überreichte die Liedertafel Isidor Roos für 25-jährigetreue, aktive Zugehörigkeit zu diesem Gesangverein den goldenen Ring.Fast alle Vereinsmitglieder hatten sich zur Feier im Lokal Zur „Sonne“eingefunden, so dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war.Nachdem sämtliche Anwesende ein die Treue verherrlichendes Liedvorgetragen hatten, hob der Vereinsvorsitzende, Prof. Dr. KarlHammerstein, in seiner Festrede die Verdienste des Gefeierten hervor.Er führte aus, dass Isidor seine prächtige Stimme unzählige Male nichtnur im Kreise der Liedertafel, sondern auch bei vielen Anlässen undselbst im weiten Umkreis hat ertönen lassen. Der Jubilar bedankte sichstatt mit Worten mit Liedern, die großen Beifall fanden. VieleGlückwünsche liefen von auswärts ein. Diese Feier verlief auf dasSchönste (18). Im Spätjahr 1909 ging der Neubau der fünfstöckigen SchuhfabrikBernhard Roos nordwestlich der Altstadt, in der Burgstraße, seinerFertigstellung entgegen. Das brachte für alle Beschäftigten der Firmaeinen Umzug mit sich, vielfach eine Umstellung und auch mehr Arbeit,die Isidor, wie gewohnt, meisterte. In dem 80 Meter langen Gebäudefanden noch mehr Beschäftigte Lohn und Brot, nämlich 300, später biszu 600. Damit stieg Bernhard Roos zu einem der größten Arbeitgeber derDomstadt auf. Das Bruder-Duo Isidor und Louis bezog ebenfalls seineneue Wohnung in der Burgstraße Nr. 8. Anlässlich des Goldenen Jubiläums von Sigmund Herz (1828-1918) alsMitglied des Synagogenrates am 14.01.1911 fand in der Synagoge einFestakt statt, der elf Punkte umfasste. Als Punkt 8 trat dersangeskundige Bürger Isidor als Solist mit dem Lied auf: „Herr, denich tief im Herzen trage“ des Musikers Ferdinand Hiller (19). Am09.04.des gleichen Jahres erhielt Isidor die goldene Medaille desBayerischen Industriellenverbandes nebst Ehrendiplom für 41-jährigeTätigkeit. Dieses Schriftstück trug das Datum vom 12.03.1911, es warder Geburtstag des Prinzregenten Luitpold von Bayern (20). Als sich im folgenden Monat die Nachricht verbreitete, dass derDirigent und Komponist Gustav Mahler am 18.05.1911 in Wien im Altervon nur 50 Jahren verstarb - er war 14 Jahre davor zum katholischenGlauben übergetreten, um sich den Weg zu einer gehobenen Stellung zubahnen - empfanden viele Musikliebhaber, dass das Ende der Musikepochedes 19. Jahrhunderts gekommen war. Auch Isidor und seineSängerkollegen mögen diese Empfindung geteilt haben. Aber MahlersLieder und Sinfonien, die von den Freuden und Leiden in dieser Welterzählen, bleiben. Sie vermitteln eine ähnliche Untergangsstimmung wiedie Lektüre der Romane von Thomas Mann. Lebhaftes Interesse erregte im Oktober 1911 im Wittelsbacher-Hof dieVorlesung aus dem Roman von Dr. Maximilian Pfeiffer: „DerGeißlerfürst“. Er schildert die Pestepidemie von 1349, als König KarlIV. herrschte und die Menschen besonders in den engen Gassen derStädte mangels Hygiene wie die Fliegen starben. Büßerscharen zogenumher Gott um Erbarmen bittend und sich selbst mit einer Peitscheschlagend. Verantwortlich dafür wurden die Juden gemacht, weil sieangeblich die Brunnen vergiftet hätten. Viele von ihnen verbranntensich in ihren Häusern, andere wurden getötet, manche retteten ihrLeben mit der Taufe. Als im folgenden Monate, dem 25.11.1911, der „Turnverein Speier 1861e.V.“ sein goldenes Jubiläumsjahr feierte und Jubilare auszeichnete,dankte Isidor im Namen der übrigen Jubilare für die ihnen erwieseneEhrung. Dabei versicherte er, auch weiterhin dem Vereineunerschütterlich die Treue zu bewahren, und ermahnte die jungenMitglieder, stets vorbildlich unter der Fahne der 61er zu dienen zum„Nutzen und Frommen“ der guten Vereinssache. Die „Speierer Zeitung“berichtete darüber (21). Am Sonntag, den 19.05.1912, beteiligte sich der Synagogen-Chorvereinan der Aufführung des „Requiem“ für Chor, Solo und Orchester vonHector Berlioz, geb.1803, gest.1869, in der evangelischenGedächtniskirche, das dieser französische Musiker im Alter von 34Jahren komponiert hatte. Die Aufführung gelang, und zum Dank dafür ludder Liedertafel-Cäcilien-Verein am darauffolgenden Donnerstag alleMitwirkenden in den Saal des „Wittelsbacher Hofes“ zu einer geselligenUnterhaltung ein. Im gleichen Monat berief die Kultusgemeinde Isidor(22) als Ersatzmitglied in ihren Synagogen-Rat, ein weiteres Anzeichendafür, dass er sich auch für das Leben der Kultusgemeinde nach Kräftenengagierte. Nach guter jüdischer Tradition im Sinne der „Zedaka“, die in derhebräischen Bibel begründet ist und einen hohen Rang einnimmt,spendeten beide Brüder, Isidor und Louis, 1909, dem Verein für dasIsraelitische Altersheim für die Pfalz e.V. 500 Mark zum ehrendenAndenken an ihre lieben Eltern. Fast ähnlich wie Gerson Bleichröder(23) schenkten sie im Jahre 1911 oder 1912 je 500 Mark für wohltätigeZwecke. Weitere Spenden, die sie verteilten, blieben sicherlich imSinne der Spender unbekannt. Als Isidors Bruder Louis am 14.06.1913seinen 75. Geburtstag und zugleich das goldene Jubiläum als Mitglieddes Synagogen-Chors feierte, brachten ihm am Abend die Mitglieder desSynagogen-Chors ein Ständchen in dankbarer Anerkennung seines treuenMitwirkens. In der schweren Zeit des Ersten Weltkriegs vom Anfang August 1914 bisAnfang November 1918 versäumte Isidor nicht, zusammen mit anderenMusikfreunden, den verwundeten Soldaten, die in den SpeyererLazaretten, fern von ihren Angehörigen, lagen, etwas Zerstreuung,Ablenkung und Herzensfreude zu bringen. Sie taten dies, in dem sie vonSaal zu Saal gingen und auftraten. Deshalb belohnte der BayerischeStaat Isidors Engagement für das Vaterland mit der Verleihung desKönig-Ludwig-Kreuzes. Obwohl die Lebensverhältnisse nach der Kriegsniederlage nicht besser,sondern noch schwieriger geworden waren, konnte Isidor am 23.07.1920in erfreulicher Frische an Körper und Geist sein goldenesArbeitsjubiläum begehen: ein halbes Jahrhundert Verantwortung, Fleißund Arbeit, ein seltener Gedenktag. Im Lauf dieser Zeit hatte er allePhasen der Entwicklung seiner Firma von der Gutenbergstraße bis zurBurgstraße, von der Epoche der Vollbeschäftigung bis zu der Zeit derArbeitsniederlegungen und der Arbeitslosigkeit miterlebt (24).Wiederum versäumte die Presse (25) nicht, dem Jubilar zu gratulieren. Als Isidors Bruder Louis, am 09.06.1924, im 86. Lebensjahr als einerder geschätzten und ältesten Bürger Speyers von dieser Welt abgerufenwurde und ein ehrenvolles Begräbnis auf dem südlichen Feld desjüdischen Friedhofs erhielt, war auch Isidors Lebenskraft undLebensfreude gebrochen. Sein im Freundeskreis bekannter Wunsch, „eineStunde nach seinem Bruder zu sterben“ ging gewissermaßen in Erfüllung.Nur neun Tage später, am 18.06.1924, folgte ihm Isidor ins Grab. DieTrauer war tief und allgemein. Vier Todesanzeigen meldeten seinenSterbefall und füllten eine ganze Zeitungsseite aus. Sie warenunterschrieben von den trauernden Hinterbliebenen Eugen, August undKarl Roos; der Bernard Roos AG; dem kaufmännischen Personal der FirmaBernhard Roos; dem technischen Personal der Firma Bernhard Roos. Aus allen Kreisen der Bevölkerung gaben zahlreiche Menschen demVerstorbenen das letzte Geleit auf dem jüdischen Friedhof. DerMännerchor der „Liedertafel“ sang seinem treuen Sangesbruder ein„Sanctus“, den Lobgesang der kath. Messe, das tiefen Eindruck bei derTrauergemeinde machte. Der Bezirksrabbiner, Dr. Ernst Steckelmacher(26), ein hochgewachsener Mann mit Spitzbart, schilderte Isidor alsMann der Arbeit und der Menschenliebe. Durch Kranzniederlegungen undWorte dankbaren Gedenkens ehrten ihn u.a. der Vorstand derIsraelitischen Kultusgemeinde Speyer, Benedikt Cahn, im Namen desSynagogen-Rates Julius Seligmann und im Namen desSynagogen-Chorvereins Leopold Müller (27). Mit dem Lied „Schlaf wohl“nahm der Chor des „Liedertafel-Cäcilienvereins“ Abschied von seinemlangjährigen Freund (28). Nach der Begräbnisfeier wurde der Leichnamins noch frische Grab seines Bruders zur ewigen Ruhe gebettet. Beideruhen sie weiterhin „im Garten Eden“ (29). (1) Das Elsass gehörte mit einem Teil Lothringens von 1871-1919 alsReichsland Elsass-Lothringen zum Deutschen Reich. Es unterstand in denJahren 1940-45 der deutschen Zivilverwaltung. Die dort lebendenMenschen unterhielten nicht selten enge Beziehungen zueinander.Schwestern aus Niederbronn beispielsweise übernahmen in Speyer diePflege kranker Menschen im St. Vincentius-Krankenhaus. (2) Vgl. „Frauen in Speyer, Leben und Wirken in zwei Jahrtausenden“,S. 220-221. (3) Vgl. das nächste Kurzporträt. (4) Vgl. Kurzporträt Nr. 3. (5) Zitat aus Ludwig van Beethoven. (6) Da das Judengärtel bereits überbelegt war, eröffnete die jüdischeGemeinde am 05.11.1888 ihre neue Anlage diesmal innerhalb desstädtischen Friedhofs. Zwischen 1888 und 1940 fanden hier mindestens321 Verstorbene ihre letzte Ruhestätte. In der NS-Zeit sollte dieseGrabanlage, wie schon das Judengärtel, eingeebnet werden, aberadministrative Hürden bewahrten sie glücklicherweise vor derZerstörung. (7) Die „Liedertafel“ wurde am 14.12.1847 als Männergesangvereingegründet. Schon drei Jahre später, am 02.02.1851, führte er den Namen„Liederkranz“. Im Jahre 1858 löste sich der „Liederkranz“ auf undentstand die neue „Liedertafel“, die mit dem seit 1818 bestehendenCäcilien-Verein (Frauenstimmen) zusammenarbeitete. Beide Vereineverbanden sich 1903 unter einer Vorstandschaft mit dem Namen„Liedertafel-Cäcilien-Verein“. Seit 1946 trug der Verein den Namen„Mozartchor der Stadt Speyer“. Seit 1972 lautet der Name: „Mozartchor/ Capella Spirensis“. (8) Vgl. Joseph Freiherr von Eichendorff in „Wünschelrute“. DieserDichter besuchte im Juli 1807 als Heidelberger Student gemeinsam mitseinem Bruder Wilhelm die Stadt Speyer und erblickte zum ersten Malden „Vater Rhein“. Besonders beeindruckt waren sie vom mächtigen Dom.Gegen Abend kamen beide wieder in Heidelberg an, wo sie sich halbtotvon Staub und Hitze in den Neckar warfen. Die Stadt hat eine Straße inSpeyer-West nach Eichendorff benannt. (9) Die Kehilla ist die Bezeichnung für die jüdische Gemeinde in derDiaspora, d.h. außerhalb Israel, und hatte ihr Zentrum in derSynagoge. Die Leitung oblag einem Personenkreis, der mit dem derSynagoge identisch war. Hauptämter bekleideten der Gemeindevorsteher,der Kantor, meist ein examinierter Opernsänger, der Religionslehrer,Chorleiter, Schächter und Synagogen-Diener. (10) Leopold Klein war Inhaber des Schuhhauses in der Maximilianstraße30. Es bestand seit Beginn der 1890er Jahre und war das elegantesteund meist besuchte Schuhgeschäft in der Domstadt. Herr Klein und seineFrau Toni, geb. Herz, boten in der NS-Zeit auch Stiefel für dieHitler-Jugend an. Herr Klein starb bereits 1934, seine Frau kam 1944im KZ Auschwitz ums Leben. (11) Julius Seligmann, 1877 in Speyer geboren, betrieb Handel mitFriseurbedarf, wurde 1934 Gemeindevorsteher und wanderte 1939 mitFamilie nach Argentinien aus. (12) Marcus Stahl (1882-1954), ein gebürtiger Sachse, war 1910/11feinsinniger Dirigent des Speyerer Liedertafel-Cäcilien-Vereins.Nachdem er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, betätigte er sichals kunstbegeisterter Organist, Musiklehrer und Leiter verschiedenerChöre. 1925 zog er nach Kaiserslautern. Vgl. den Beitrag von KarinHopstock in „Die Juden von Speyer“, 2004, S. 162. (13) Vgl. Genesis 12,2 und 3. Segen bedeutet hier jemand etwas Guteswünschen. (14) Vgl. „Deutsches Namenslexikon“, 15 000 Familien- und Vornamennach Ursprung und Sinn erklärt von Hans Bahlow, Gondrom Verlag. (15) Vgl. die Speierer Zeitung vom 15.05.1905. (16) Vgl. „Gabriel Riessers Leben und Wirken von Jos. Feiner“, ZurErinnerung an den Hundersten Geburtstag, gewidmet vomSynagogen-Chor-Verein Speyer, Hamburg 1906, Verlag von M. Glogau jr.Nachdem Gabriel Riesser sich vergeblich um eine Dozenten-Stelle inHeidelberg und Jena sowie um die Zulassung als Rechtsanwalt in Hamburgbeworben hatte, wurde er 1832 Herausgeber der Zeitschrift „Der Jude“.Unter dem Ausspruch „Wir sind entweder Deutsche, oder wir sindheimatlos“ setzte er sich für die volle Gleichberechtigung der Judenin Deutschland ein. 1860 wurde er als erster jüdischer RichterDeutschlands in das Obergericht gewählt. Er verstarb im April 1863 inseiner Vaterstadt Hamburg. Der Speyerer Lehrer Leo Waldbott hielt imApril 1906 im Saal des Wittelbacher Hofes einen Vortrag über dieseüberragende Persönlichkeit. (17) Felix Hildesheimer betrieb das Kunst- und Musikaliengeschäft amAltpörtel, Gilgen-Straße 1, das er von seinem Vater Abraham geerbthatte. Er wurde Organist der Speyerer Synagoge bis zu ihrer Zerstörungam 09.11.1938. Er selbst nahm ein unglückliches Ende, als er sich am01.08.1939 in selbstmörderischer Absicht gegen einen heran sausendenZug warf. Ein Findling auf dem jüdischen Friedhof kennzeichnet dieStelle, wo er seine letzte Ruhestätte fand. (18) Vgl. die Speierer Zeitung vom 09.01.1907. (19) Ebenda vom 14.01.1911. Ferdinand Hiller, geb. 1811, gest. 1885,hat die Entwicklung des Musiklebens in den rheinischen Städten Köln,Düsseldorf, Aachen und Elberfeld maßgeblich beeinflusst. Mit Brahms,Robert und Clara Schumann sowie mit dem Maler M.D. Oppenheim war ereng befreundet. Ebenso fand er die Zeit, Bücher zu schreiben, unteranderen „Felix Mendelssohn-Bartholdy“, „Briefe und Erinnerungen“ und„Künstlerleben“. Eine Berufung nach Leipzig 1860 schlug er aus. (20) Vgl. die Speierer Zeitung vom 10.04.1911. (21) Ebenda vom 28.11.1911. (22) Der Name Isidor Roos kommt im Gedicht von Martin Cramer vor, daser zum 100-jährigen Bestehen der Speyerer Synagoge 1937 verfasst undder Kultusgemeinde gewidmet hatte. Vgl. „Geschichte der Juden inSpeyer „ 1981, S. 118-119. (23) Gerson Bleichröder (1822-1893), der renommierteste BankierBerlins, Vermögensberater Bismarks und britischer Konsul wurde alserster Jude in Preußen mit seiner Familie 1872 in den erblichenAdelsstand erhoben. Er war verschwenderisch mit Spenden für wohltätigeZwecke, und seine Menschenliebe erstreckte sich auf alle Notleidendenohne Unterschied der Religionen und Konfessionen. (24) Die Schuhfabrik in der Gutenbergstraße übernahm CarlLandenberger, vgl. Kurzporträt Nr. 17. Die Schuhfabrik in derBurgstraße ging bereits 1935 in den Besitz der Nachfolgefirma RovoGmbH. Während des Zweiten Weltkriegs waren dort Zwangsarbeiterinnenund -Arbeiter unter schwersten Bedingungen beschäftigt. Aus Rovo wurdedann Salamander. Die Gemeinnützige Baugenossenschaft Speyer eG kauftedas Gelände Ende der 70er Jahre auf und riss die Fabrik ab, um daraufneue Wohnungen und Garagen zu bauen. (25) Vgl. die Speierer Zeitung vom 22.07.1920. (26) Der im Juni 1881 in Mannheim geborene Ernst Steckelmacher wurdeim Mai 1910 in Bad Dürkheim zum Rabbiner des RabbinatsbezirksFrankenthal gewählt. Im Jahre 1916 heiratete er Vera, geb. Weil, ausEllwangen a. d. Jagst. Sie hatten die Tochter Charlotte und den SohnWalter, die beide in Mannheim geboren wurden. Dr. Steckelmacher warauch Vorsitzender der Ortsgruppe des „Centralvereins deutscherStaatsbürger jüdischen Glaubens“. Er bezeichnete Wahrheit, Recht undFrieden als die Grundsäulen aller Sittlichkeit und allenMenschenglücks und folgte in seiner Amtsführung der liberalenRichtung. Er war der letzte Rabbiner der jüdischen Vorkriegsgemeinde.Nach Lageraufenthalten in Dachau, Gurs und Le Récébédou kam er 1943 imLager Lublin-Majdanek ums Leben. (27) Leopold Müller wurde im Februar 1871 in Speyer geboren, wurdeKaufmann und starb am 30.12.1925 in Köln. Seine Gattin setzte ihm dasGrabmal auf dem jüdischen Friedhof in Speyer. Er war der älteste Sohnvon Isaak Josef Müller. Vgl. Kurzporträt Nr. 17, Anmerkung Nr. 11. (28) Vgl. die Speierer Zeitung vom 21.06.1924. (29) Diese Wendung, die sich auf die Bibelstelle Genesis Kapitel2,Vers 10 bezieht, ist oft auf Speyerer Grabsteinen desmittelalterlichen jüdischen Friedhofs zu lesen. 06.10.2011 7. LEOPOLD SÜSSEL Anfang des 19. Jahrhunderts waren Leopolds Vorfahren aus dempfälzischen Altdorf (1) nach Speyer übersiedelt. Sie waren Metzger undman kann sogar von einer “Dynastie“ von Metzgern sprechen. AuchLeopold wurde Metzgermeister (2) und hielt damit diese in derJudenheit uralte, koschere, das heißt im Sinne der Tora reineTradition hoch, die mit dem rituellen Schächten der Tierezusammenhängt (3). Jüdische, aber auch nichtjüdische, Bürger Speyers,die Wert auf koscheres Fleisch legten, kauften es besonders gern beiLeopold Süssel. Geboren wurde Leopold Ascher am 13.04.1854 in Speyer als ältester Sohndes Speyerer Samuel und dessen Ehefrau Esther, geb. Scharff, ausEssingen (4) bei Landau. Er hatte acht Geschwister, vier Brüder undvier Schwestern. Von seinem Vater erlernte er den Metzgerberuf, den erspäter im Schlachthof und Metzgerladen erfolgreich ausübte. Leiderstarb sein Vater Samuel bereits im Alter von 54 Jahren am 31.12.1874,wie aus Todesanzeige und Sterberegister hervorgeht. Sein früher Todwird den zwanzigjährigen Leopold in seiner Absicht bestärkt haben,Vaters unvollendetes Werk fortzusetzen. Inzwischen führte seine Mutterdie Metzgerei weiter. Geschäft und Wohnung lagen in der Maximilian-Straße- so genannt erst1816 zu Ehren König Maximilians I. Joseph von Bayern - die für ältereSpeyerer Bürger „die Hauptstrooߓ ist und bleibt. Sie gilt als diemittelalterliche „Via Triumphalis“, Triumph-Straße, und ist „die guteStube“ der Stadt. Die Metzgerei hatte die Nr. 78und war telefonischerreichbar unter der Nr. 230. Der Kaufmann, dem es gelang, sich indieser breiten und langen Straße niederzulassen, hatte bessereVerkaufschancen, genoss Ansehen und prägte mit seinen Nachbarn ihrebesondere Atmosphäre. Leopold, ein Mann mit schütterem Haar, Oberlippenbart und kräftigenHänden (5) heiratete am 28.10.1886 in Speyer die um neun Jahre jüngereFlora, geb. Cahn, aus Rülzheim (6), die Tochter eines Viehhändlers. Inder damals stark landwirtschaftlich geprägten Pfalz waren fast alleJuden in Rülzheim als Viehhändler tätig. Innerhalb eines Jahrzehntserblickten in rascher Folge sechs Kinder das Licht der Welt, alle inder Speyerer Wohnung, wie es damals üblich war: Sally Otto, geb.1887,Elisabeth, 1888, - die Freude über ihre Geburt wurde allerdings durchden Sterbefall der Großmutter Esther am 22.06. überschattet - Johanna,1890, die aber drei Jahre später an Masern verstarb, Julius, 1892,Amalia 1893 und als Nesthäkchen Lucy 1897. Im Monat Oktober 1887 (7) schächtete Leopold im damaligen Schlachthof,Nikolausgasse 4, gegenüber der Gaststätte „Zum Halbmond“, 31 Rinder.Die Schlachttiere bezog er von seinen Glaubensgenossen, die auf demLande den traditionellen Beruf des Viehhändlers ausübten und dererHandschlag mehr wog als der Kaufvertrag heute. Es ist zwar nichtbelegt, aber auch nicht auszuschließen, dass einer von ihnen dergleichnamige und gleichaltrige Leopold Lehmann (8) war. In seinemLaden gab es alle Sorten feinsten Aufschnitts (9), außer vomSchweinefleisch. Er vertrieb ebenfalls Konservenartikel und warMitglied der „Freien Metzgerinnung“. Ob auch Leopold sich des Fleischbesudelungsvorwurfs erwehren musstewie manche Berufskollegen, lässt sich nicht ermitteln. Diese wurdennämlich von antisemitischen Kreisen beschuldigt, dass sie das für ihrechristlichen Kunden bestimmte Fleisch aus religiösen Gründen besudelthätten, was auch zu Prozessen führte (10). An den hohen jüdischenFeiertagen (11), die in den Herbstmonaten September / Oktober festlichin der Synagoge und zuhause begangen werden, blieb sein Geschäftgeschlossen. Im Jahre 1909 spendete er dem Verein für dasIsraelitische Altersheim für die Pfalz e.V. einen Betrag (12). Neben dem Sabbat, nach dem Versöhnungstag der höchste Feiertag imjüdischen Jahr, der als Familientag begangen wird, der Beschneidungs-und Bar-Mizwa-Feier (13) sowie Festmahlzeiten zu Geburtstagen stelltenzweifellos Hochzeiten Höhepunkte im alltäglichen Familienleben dar.Zuerst vermählte sich die älteste Tochter Elsa im September 1909 mitdem Zigarrenhändler Salomon Levy aus Haßloch. Im Oktober des folgendenJahres erblickte ihre Tochter Trude Theres dort das Licht der Welt. Am03.11.1911 feierte Leopold mit seiner Frau Flora das Fest dersilbernen Hochzeit im Familienkreis, wozu auch die Presse (14) demgeachteten Jubelpaar die besten Glückwünsche übermittelte. Das Leid ließ nicht lange auf sich warten. Obwohl Kaiser Wilhelm II.dem Volk gelobte, „es herrlichen Zeiten entgegenzuführen“, setzte ernicht alle Mittel ein, um den Frieden zu halten. Als der ErsteWeltkrieg im August 1914 ausbrach, der allenfalls bis Weihnachtenhätte dauern sollen, brachte dieser nicht nur entbehrungsreiche Jahrefür die Untertanen des Reichs mit sich, er riss auch eine fühlbareLücke in der Familie Süssel. Julius, Absolvent der Realschule Speyer 1908 (15), war dem Aufruf des„Centralvereins deutscher Bürger jüdischen Glaubens“ gefolgt: „Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus, Eure Kraft dem Vaterland zu widmen! Eilt freiwillig zu den Fahnen!... Ihr alle - Männer und Frauen - stellt Euch durch persönliche Hilfeleistung in den Dienst des Vaterlandes“. Julius meldete sich und wurde Gefreiter in der bayerischenPionier-Kompanie 7. Aber bald entging es ihm nicht, dass „die Juden“gelegentlich seitens seiner Kameraden die Zielscheibe mancherspitzigen Bemerkung waren. Leider fiel er gleich zu Beginn derKampfhandlungen am 23.09.1914, in der Blüte seines Lebens, noch ledig(16). So hatte er keine Gelegenheit, sich für Kaiser und Vaterlandauszuzeichnen, wie andere Kameraden. Sie sangen ihm zur Ehre beimAbsenken des Sarges in das kühle Grab das „Lied vom guten Kameraden“,das der schwäbische Dichter Ludwig Uhland geschrieben hatte. Darinheißt es u.a.: Eine Kugel kam geflogen: Gilt’s mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, er liegt vor meinen Füßen: als wär’s ein Stück von mir: (17) Auf ihren Gesichtszügen lag Ergriffenheit. Der Schmerz seiner Elternund Geschwister war tief, und sie konnten sich nicht losreißen von demGedanken: Warum? Warum so früh? Rund ein Jahrhundert davor hattenjüdische Soldaten im Vertrauen auf eine völlige Gleichberechtigungaktiv am Befreiungskrieg gegen Napoleon teilgenommen. Sie hatten essatt, Bürger zweiter Klasse zu sein. Zwanzig Jahre nach Julius‘ Tod,im Dritten Reich, waren sie mit dem Makel der Wehrunwürdigkeitversehenworden. Auch sein älterer Bruder Sally Otto war zum Kriegsdienst eingerücktund kehrte gesundheitlich stark angeschlagen in die Heimat zurück.Nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Spätjahr 1918 brachte derFriedensvertrag von Versailles französische Besatzung, darunterKolonialtruppen, politische Instabilität und Inflation. Deutschlandbot seinen Einwohnern keine guten Zukunftsaussichten - trotzDemokratie. Im Jahre 1921 schloss ein weiteres Brautpaar den Bund fürs Leben: Inder Hoffnung auf eine Besserung seines Gesundheitszustandes heirateteSally Otto die um fünf Jahre jüngere Mathilde, genannt Thilla, geb.Mayer, aus Iggelheim / Pfalz. Sie zogen nach St. Ingbert (18) insSaargebiet, das damals infolge der deutschen Niederlage vom Völkerbundregiert wurde. Dort betrieben sie ein Schuhgeschäft und wurden dieEltern von zwei Mädchen: Hannelore, geb.1922, und Helga, 1925. Im Jahre darauf vermählte sich Amalia, genannt Mally, mit demMetzgermeister Hermann Bonem aus Thalfang (19), Kreis Bernkastel.Trauzeugen waren ihr Vater Leopold und Josef Kahn (20), der Ehemannvon Leopold jüngster Schwester Mathilde. Amalia brachte in Speyer zweiKinder zur Welt: Margaretha, geb.1924, und Franz Leopold, 1925. DenSchluss machte Leopolds jüngste Tochter Lucy, die 1926 den MetzgerSigl Wertheimer aus der Grenzstadt Kehl heiratete. In den Jahrendazwischen verlief der normale Alltag, gefüllt mit Arbeit, Mühsal,kleinen Freuden, mancherlei Enttäuschungen und immer neuen Hoffnungen. Die Jahre gingen dahin. Am heiligen Samstag, den 31.01.1925, machteLeopold den letzten Atemzug nach schwerem Leiden im 71. Lebensjahre.Das letzte Geleit gaben ihm, außer seinen Familienangehörigen,Freunden und treuen Kunden, auch Mitglieder der freien Metzgerinnung,die dazu durch eine Anzeige in der Presse (21) eingeladen wordenwaren. Er wurde auf dem südlichen Feld des jüdischen Friedhofs an derWormser Landstraße beigesetzt. Sein Schwiegersohn Hermann Bonem hattebereits davor das Geschäft übernommen. Der Ehemann von Elsa, SalomonLevy, war 1932 in Haßloch gestorben, noch bevor dieNationalsozialisten auf legalem Weg die Macht ergriffen. Er erreichtenur das Alter von 46 Jahren und wurde auf dem dortigen jüdischenFriedhof bestattet, der vorhanden ist. Sally Ottos Gesundheitszustand hatte sich indes nicht gebessert. ImGegenteil. Im Jahre 1935 erlag er im Alter von erst 48 Jahren einerLungenentzündung. Sein früher Tod zwang die 43-jährige Witwe MathildeSt. Ingbert zu verlassen. Sie kehrte mit ihren beiden Töchtern zuihrem hochbetagten und tiefgläubigen Vater Michael nach Iggelheimzurück (22). Nun lebte sie aber im Dritten Reich, das die WeimarerRepublik als „Judenrepublik“ diffamiert hatte und von dem nichts Guteszu erwarten war. In der Tat nahm die langsame Erdrosselung jüdischen Lebens durch dieNationalsozialisten zwischen 1935 und 1938 immer weiter ihren Lauf, sodass viele Bürger jüdischen Glaubens, zumal die jüngeren Jahrgänge,nur in der Auswanderung einen Ausweg aus der heiklen Lage fanden. DerAbschied von einem 1933 totalitär gewordenen Staat fiel ihnen nichtschwer, wohl aber die Trennung von Haus und Heimat, von ihrenAngehörigen und den Vorfahren, die auf Friedhöfen ruhen und warten.Während fünf von Leopolds Geschwister in Speyer starben, ruht auf demjüdischen Friedhof in Speyer nur seine dreijährige Tochter Johanna. Am 16.02. 1937 starb Flora im Alter von 74 Jahren. Sie wird aber imSterberegister des Standesamtsbezirkes Speyer nicht aufgeführt.Hermann Bonem verkaufte rechtzeitig das Geschäft und wanderte imgleichen Jahr mit seiner Familie über New York - Spitzname Big Apple -nach Chicago im US-Bundesstaat Illinois aus, wo 346 000 Juden lebten.Er hatte Glück, denn er fand in einem der vielen Schlachthöfe soforteine Neuanstellung, auch ohne Kenntnis oder Beherrschung der Sprache. Sigl und seine Frau Lucy trafen Anfang Februar 1938 in New York ein,wo man fast zwei Millionen Juden zählte. Elsas Tochter Trude Theresheiratete am 11.08.1938 in Mannheim Henry Hely und emigrierte 1940 mitihm nach New York. Ob sie erfuhren, dass dort am 15.10. des gleichenJahres die Uraufführung des Films, einer gelungenen Parodie, „Dergroße Diktator“ stattfand, in dem Charly Chaplin als Anton Hynkel denDiktator Adolf Hitler spielt? Sallys Witwe Mathilde und ihre Töchter erlebten den Novemberpogrom1938 in Schifferstadt auf der Flucht vor den braunen Horden. Noch imgleichen Jahr konnte die Tochter Hannelore mit einem „Kindertransport“nach England emigrieren und erreichte später die USA. Ihre SchwesterHelga wanderte 1939 nach Frankreich aus und traf 1941 über Spanien undLissabon in New York ein, wo sie ihre Mutter, die wie durch ein Wunder1940 auch New York erreicht hatte, im Hafen erwartete. DieWiedersehensfreude war nach über zweijähriger Trennung besonders groß.Ihr Leben in der Emigration blieb aber auf Jahre hinaus mehr alsentbehrungsreich. Das Gespenst eines Zweiten Weltkrieges, das seit Beginn derNazi-Gewaltherrschaft im deutschen Volk umging, wurde am 01.09.1939Realität, und alle setzten wieder ihre ganze Hoffnung auf denangekündigten Blitzkrieg, der aber erneut ausblieb. Der Krieg zeigtesich weit schlimmer als alle zehn Plagen Ägyptens zusammen- undmalgenommen! Das Schicksal der Juden, die wegen Alter oder Krankheit nichtemigrieren wollten oder konnten, oder aber, weil sie kein Aufnahmelandfanden, war in jedem Fall besiegelt. So geschah es mit Elsa Levy. Siewurde am 22.10.1940, dem Laubhüttenfest, hebr. Sukkot, das an dieUnbehaustheit der Israeliten bei der Wüstenwanderung mit Moseserinnert, in das Internierungslager beim Dorf Gurs deportiert. ZweiJahre später erfolgte ihr Abtransport im Viehwagen, wo die Menschen sodicht ineinander gedrängt waren, dass sich niemand von seinem Platzbewegen konnte, und ohne ausreichende Nahrung und Trinkwasser (23). AmEnde der Fahrt schlossen sich hinter ihnen die Türen der Gaskammer imLager Auschwitz (24). Es bedeutete aber nicht das endgültige Auslöschen der Familie Süssel.Eines Tages, im Jahr 1945, besuchte Franz Bonem, jetzt als Frank, inder Felduniform eines GI‘s der US-Army die frühere Wohn- undWirkungsstätte seiner Eltern und Großeltern (25). Das Leben mussweiter gehen in Speyer, Chicago und anderswo. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- (1) Bereits 1635 lebten einige Juden in Altdorf. Im Jahre 1770erreichten sie die erforderliche männliche Zehnzahl, um Gottesdiensthalten zu können. 1815 zählte die Gemeinde 79 Mitglieder, danach gingdiese Zahl stetig zurück. Vgl. „Die Synagogen in der Pfalz von 1800bis heute“ von Otmar Weber, S. 41-42. (2) Außer seinem Geschäft gab es noch drei koschere Metzgereien in derDomstadt, die von Juden betrieben wurden: Es waren Löb Süssel, NathanWolff und Vitus Cramer. (3) Das Schächten ist keine rohe Tierquälerei, wie Antisemitenbehaupten, sondern die durch das biblische Blutgenussverbot aufgrundvon Deuteronomium 12,21 geforderte Schlachtmethode. Dabei werdenHalsschlagader und Luftröhre der Tiere ohne Betäubung mit einemSchnitt durchtrennt, was das schmerzfreie völlige Ausblutengewährleistet. Vgl. Johann Maier, „Judentum von A bis Z“, S. 372. (4) Die Synagoge in Essingen, Geramme-Straße 48, wurde um 1820 imspätklassizistischen Stil erbaut. Wahrscheinlich bestand davor einVorgängerbau. Die Synagoge wurde mit Beginn der NS-Zeit, da die Anzahlder Gemeindemitglieder zu klein geworden war, 1937, an einen Landwirtverkauft. Sie ist in ihrer Substanz erhalten geblieben. Am Ortsrandbefindet sich der im 17. Jahrhundert angelegte, mit fast einem HektarFläche bedeutendste jüdische Friedhof der Pfalz. (5) Das Foto von Leopold verdankt der Autor seiner Enkelin HelgaKramarsky, das sie ihm freundlicherweise in ihrem Brief vom Oktober2009 aus New York zusandte. (6) Bürger jüdischen Glaubens wurden in Rülzheim bereits im Jahr 1667erwähnt. Viele von ihnen waren Viehhändler und in ganz Süddeutschlandtätig. Die jüdische Gemeinde zählte im Jahre 1800 179 Mitglieder underreichte ihren Höchststand 1848 mit 490 Seelen. Sie war damit diegrößte jüdische Landgemeinde der Pfalz. Von ihren Bürgern gingenzahlreiche Impulse für das gesellschaftliche Leben im Dorf aus. Danachging diese Zahl kontinuierlich zurück. 1930 gab es noch 198Mitglieder. Nach Aussage eines Einheimischen existierte das Wort„Antisemitismus“ bis 1933 nicht im Rülzheimer Lexikon. Die 1833 ineinem Hinterhof vom Architekten August von Voit vollendete Synagogewurde zwar 1938 verwüstet, aber nicht abgerissen. Sie dient seit 1991als Geschichts- und Begegnungsstätte. (7) Vgl. die Speierer Zeitung vom Oktober 1887. (8) Vgl. Kurzporträt Nr.17. (9) Vgl. die Speierer Zeitung vom 24.05.1913. (10) Vgl. „Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und dieZukunft der deutschen Juden“ Berlin, 1918, S. 30. (11) Solche Feste sind Rosch Haschana / Neujahrsfest mit dem Blasendes Schofar / Widderhorn, Jom Kippur / Versöhnungstag, dessen Anspruchsich fast kein Jude entziehen kann, Sukkot / Laubhüttenfest hält dieErinnerung an die Zeit der Wüstenwanderung mit Moses wach undschließlich Simchat Thora / Freude der Lehre beendet die Lesung derTora, der fünf Bücher Moses, und beginnt sie von neuem. (12) Vgl. den „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer a. Rh. 1909. (13) Mit 13 Jahren wird der jüdische Knabe „Bar Mizwa“, das heißt Sohnder Pflicht. Er ist verpflichtet alle Gebote der Tora einzuhalten. Inder Synagoge wird er im betreffenden Sabbatgottesdienst zum ersten Malzur Toralesung aufgerufen, zählt bei der Mindestzahl, hebr. Minjan,von zehn Gottesdienstbesuchern mit und trägt am Wochentagen dieGebetsriemen beim Morgengebet. Im Reformjudentum ist eineentsprechende Feier für das Mädchen eingeführt worden, das schon mit12 Jahren „Bat-Mizwa“, Tochter der Pflicht, wird. (14) Vgl. die Speierer Zeitung vom 03.11.1911. (15) Während des Ersten Weltkriegs sind zwei Lehrer und 53 Schüler derRealschule Speyer für das Vaterland gefallen. Vgl. die SpeiererZeitung vom 15.11.1926. (16) Der Name Julius Süssel steht auf der Gedenktafel, die neben derStadtsparkasse, dem früheren Standort der Realschule amWilly-Brandt-Platz angebracht war und sich seit 2009 in derAntikenhalle nördlich vom Dom befindet. Es ist die Gedächtnisstättefür die 1914/18 und 1939/45 gefallenen Pioniere. Vgl. „Die Juden vonSpeyer“, Bezirksgruppe Speyer 2004, S.179. Im Ersten Weltkriegmeldeten sich 77.000 Staatsbürger jüdischen Glaubens zu den Fahnen,35.000 wurden für ihre Tapferkeit geehrt, mehr als 12.000 von ihnenfielen. Zu den Letzteren gehören zwölf Speyerer Juden. Das erste Opferwar Julius Süssel. Die Hälfte der übrigen fiel allein im Jahre 1917.Im Dezember 1916 ließ das Kriegsministerium den Anteil der Juden imMilitär prüfen, da ihre Anzahl proportional, angeblich wegen ihresPazifismus, niedriger sei. Das Ergebnis der „Judenzählung“ ergab, dassder Prozentsatz der jüdischen Freiwilligen überdem Gesamtdurchschnittder deutschen Bevölkerung lag. Dieses Ergebnis wurde jedoch nichtveröffentlicht. Dies empfanden die Juden als Kränkung. Schon bei derRevolution von 1848 war der jüdische Blutzoll höher gewesen, als esihrem Bevölkerungsanteil entsprach. (17) Unter dem Titel „Als wär’s ein Stück von mir“ veröffentlichteCarl Zuckmayer 1966 im S. Fischer Verlag seine Erinnerungen, die bisheute lesenswert geblieben sind. (18) Die jüdische Kultusgemeinde St. Ingbert errichtete ihre Synagoge1875/76. Nach der Saarabstimmung 1935 verkauften die meisten Judenihre Häuser, und die Kultusgemeinde veräußerte die Synagoge an dieStadt. Von 1936 bis 1944 wurde sie als Luftschutzschule benutzt. ImJuni 1945 wurde die Synagoge durch einen Militärrabbiner neueingeweiht und diente von 1945 bis 1947 als Synagoge für amerikanischeSoldaten. Seit 1988 ist das Amt für Religionsunterricht derPfälzischen Landeskirche in dem Gebäude untergebracht. Vgl. „DieSynagogen in der Pfalz von 1800 bis heute“ von Otmar Weber, S. 153. (19) Thalfang war im Jahre 1815 Geburtsort des Rabbiners SamuelHirsch, der 1889 in Chicago starb. (20) Josef Kahn (1861-1942) war Kaufmann, wurde Vorsitzender desHandelsschutzvereins und Geschäftsführender Direktor der„Motorwagengesellschaft Speyer GmbH“. Nach Auflösung der Gesellschaftbetrieb er ein Rauchwarengeschäft bis er im Dezember 1931 mit seinerFrau zu ihrem Sohn Willy nach München zog. Am 17.06.1942 wurde er nachTheresienstadt deportiert und kam dort um. (21) Vgl. die Speierer Zeitung vom 02.02.1925. (22) Vgl. den Beitrag von Siegrun Wipfler-Pohl: Das jüdische Kaufhaus„Geschwister Mayer“ in Iggelheim S. 212 in „Jüdische Lebensgeschichenaus der Pfalz“ ,Evangelischer Presseverlag Pfalz GmbH Speyer 1995. Inden USA änderte sich der Name Süssel in Sussel oder auch Seessel. (23) Ein solcher Akt der Barbarei findet annähernd eine Parallele nurin den Transporten der Negersklaven von der westafrikanischen Küste indie neu entdeckten Länder Nord- und Südamerikas zu Beginn des 16.Jahrhunderts. Viele Sklaven erreichten nicht das Reiseziel, weil siein den engen Laderäumen verhungerten oder erstickten.- Von deninsgesamt zehn Millionen Farbigen ging ungefähr die Hälfte zugrunde. (24) Das Lager Auschwitz lag in Polen zwischen Kattowitz und Krakau ander Mündung der Sola in die Weichsel im sogenanntenGeneralgouvernement. Es umfasste eine Fläche von 40 Quadratkilometernund bestand aus einem Stammlager, dem Vernichtungslager Birkenau mitvier Gaskammern und Krematorien sowie 38 Außen- und Nebenlagern. Aufseinem Eingangstor war in großen Buchstaben der zynische Spruch zulesen: ARBEIT MACHT FREI. Eine gute Eisenbahnverbindung führtedorthin. Die Menschen, die zur Sklavenarbeit nicht taugten, wurdendurch das Blausäureprodukt Zyklon B sofort getötet. Der Tod stelltesich nach 3 bis 15 Minuten ein. Täglich wurden ca. 6000 Personenvergast, Ziel: 12 000. Insgesamt kamen etwa 2,5 Millionen Menschen zuTode, 90 Prozent davon Juden. Der Gestank der Krematorien durchdrangdie ganze Gegend. Menschliche Grausamkeit kannte keine Grenzen. Am27.01.1945 befreiten Truppen der Roten Armee die restlichenÜberlebenden des Lagers. Rudolf Höss, vom 01.05.1940 bis zum01.12.1943 Lagerkommandant von Auschwitz, wurde nach einem Prozess inKrakau 1946 auf dem Lagergelände hingerichtet. (25) Diese Information verdankt der Autor Frau Wagner, geb. Bressler,früherer Nachbarin der Familie Süssel, in einem Gespräch vom22.08.2001. Foto: Stadtarchiv Speyer Inv. 2857; sim 22.09.2011 6. MARX MAYER Dieser Bürger jüdischen Glaubens wurde am 17.02.1846 in Gommersheimgeboren als einziges Kind von Marx und Sophia, geb. Westheimer, dievon dort stammte (1). Mit 14 Jahren verlor er seinen Vater, der 1860in Neidenstein, Elsenzgau verstarb. Seine Mutter heiratete sechs Jahrespäter den Witwer Tobias Dreyfuss aus Speyer. Wie traditionell beiJuden wurde Marx Kaufmann von Beruf in der Domstadt. Von 1873 an hielter sich geschäftlich einige Jahre in den Vereinigten Staaten vonAmerika auf. Im Jahre 1878 heiratete er die um zehn Jahre jüngere Sarah Lussheimeraus Hockenheim (2) Rhein-Neckar-Kreis. In der Villa Mayer in derSpeyerer Prinz-Luitpold-Straße 4bezog das Ehepaar seinen Wohnsitz. Imgleichen Jahr errichtete Marx in der Bahnhofstraße 16g eine Firma fürKaffee-Importe, in der es immer gut roch und die aus kleinen Anfängenheraus nach wenigen Jahren in ganz Südwestdeutschland einen geachtetenRuf genoss. Das gelang, weil Mayer es besonders geschickt verstand,das Personal durch sein persönliches Entgegenkommen und ein angenehmesArbeitsklima lange Jahre zu halten. Aus seiner Ehe gingen in der Domstadt lauter Jungen hervor:Maximilian, geb. 1879, Wilhelm, 1880, August, 1883, und als NachzüglerEugen, 1890. Spätestens 1903 eröffnete Marx eine Kaffeebrennerei inder Waldstraße 3. Als Vorstand des Verbandes BayerischerLebensmittel-Großhändler, Gruppe Rheinpfalz, bemühte er sich sehr ineiner damals wirtschaftlich schwierigen Zeit, die Versorgung der Pfalzzu sichern. Für ein weiteres Gedeihen des Unternehmens stellte errichtig die Weichen und hatte zugleich das Glück, dass seine Söhne,vor allem Max und Wilhelm, ganz nach ihm geschlagen waren. Was inkeiner Kaufmannsfamilie als selbstverständlich galt und gilt. Marx Mayer starb zum großen Kummer der Familie am 03.12.1905 im Altervon erst 59 Jahren in der Domstadt als der jüngste Mann der hierporträtierten Personen. Es war das Geburtsjahr von Paulus Skopp, demnachmaligen Oberbürgermeister von Speyer. Marx‘ Frau war 49 und derjüngste Sohn Eugen nicht einmal 15 Jahre jung. Marx wurde auf demHauptweg des jüdischen Friedhofs an der Wormser Landstraße bestattet.Bei der Trauerfeier hob der Bezirksrabbiner, Dr. Adolf Salvendi, inschlichtem schwarzen Talar mit Barett gekleidet, dessen Fürsorgegegenüber den Firmenbeschäftigten hervor sowie seine geschäftlicheTüchtigkeit, die leider ein zu frühes Ende gefunden hatten (3). Danach signierten Geschäftsunterlagen die „Kaufmannswitwe Marx Mayerund Kinder“ als Firmeninhaber (4). Später übernahm der älteste SohnMax die Verantwortung für die Firma mit Unterstützung seines BrudersWilhelm. Max war von kleinem Wuchs und sprach am liebsten pfälzischenDialekt. Im Jahre 1908 bot er den „Iris-Kaffee“ und Kaffee-WürfelPerfetto aus besten Kaffee-Sorten hergestellt zum Preis von 20, 25 und30 Pfennig pro Würfel an (5). Es war kein Malzkaffee, kein Surrogatund keine Essenz, wie er in der Zeitungsanzeige ausdrücklichversicherte, es war ein Getränk, das angenehm duftete. Im Jahre 1912gründeten die Brüder eine Zuckerwarenfabrik, in der zeitweilig bis zuhundert Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt waren. Nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers FranzFerdinand d’Este und seiner Gattin Sophie, geb. Chotek, am 28.06.1914verdichtete sich die Vorahnung eines Weltkrieges immer mehr zurGewissheit. Die Politiker ließen sich von den Militärs überspielen,die Kriegsbegeisterung der jungen Männer schlug hohe Wellen, und dieAppelle der Bertha von Suttner (6), die leidenschaftlich die Idee desFriedens und der Völkerverständigung in ihren Romanen vertrat wie in„Die Waffen nieder!“, verhallten ungehört. Bald sollte „GeneralHunger“ die Macht übernehmen. So nahm das Verhängnis seinen Lauf. Wie nicht anders zu erwarten, hatte der Kriegsausbruch am 01.08.1914negative Auswirkungen auch auf die Produktion der Handelsfirma „MarxMayer und Co“, kurz „Coma“ genannt. Zwar waren Max und seine Brüder imBesitz von amerikanischen Reisepässen, leisteten aber trotzdem ihrenschweren Dienst für das Vaterland. Nur Max wurde aus gesundheitlichenGründen vom Kriegsdienst zurückgestellt. Aber er stiftete imKriegsjahr 1917 mit seiner 31-jährigen Frau Hedwig, geb. Gutmann, ausSchwäbisch Gmünd, in hochherziger Weise 500 Reichsmark fürAnschaffungen von Kleidern und Wäsche zugunsten eines neuangegliederten Kinderhorts (7). Vier Monate später wurde demSanitätsmann Max das „König-Ludwig-Kreuz (8) verliehen. Aus dem„Großen“ Krieg kehrten seine Brüder glücklicherweise alle unversehrtwieder in die Heimat zurück. Als Folge der Kriegsniederlage gingen wichtige Absatzgebiete,beispielsweise in Elsass, Lothringen und Luxemburg, der Firmaverloren, und die Einfuhr von Kaffee wurde von der französischenBesatzungsmacht merklich erschwert. So bauten Max und Wilhelm dieLebensmittelabteilung bedeutend aus. Zum 01.01.1922 wandelten sie die Firma zur GmbH um und bauten siegroßartig mit Lagerhaus, Fabrikationsräumen, Bürogebäude und dreiSchornsteinen aus. Das Gelände umfasste 300 Quadratmeter. Der Duft vomgerösteten Kaffee war in der ganzen Umgebung zu riechen und mancheAnwohner fühlten sich dadurch belästigt. Beim sonntäglichen Kaffee undKuchen und beim Kaffeekränzchen schlürften viele Speyerer Bürgerinnenund Bürger den Kaffee der „Coma-Fabrik“, auch ohne dessen Quelle zukennen, und sie ließen es sich munden, einerlei, ob ihre Einstellungdie eines Judenfreunds war oder die eines Antisemiten. August Mayerbetrieb den Kaffee-Großhandel durch eine im Februar 1922 in Frankfurtam Main gegründete Firma, deren Sitz sich in einem stattlichen Hausbefand. Die Firma „Marx Mayer und Co“ unterhielt noch etwa 50Lebensmittelfilialen. Das vom Volksschullehrer Julius Streicher im Inflationsjahr 1923gegründete und vor Obszönität strotzende Hetzblatt „Der Stürmer“ - das„Deutsche Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit“ - (9)beeinträchtigte mit seinen Leitartikeln, Zeichnungen und Sprüchen wie„Die Juden sind unser Unglück“, in jeder Nummer auf der ersten Seitein Balkenlettern gedruckt, wozu der angesehene Berliner HistorikerHeinrich von Treitschke, 1879, das Stichwort gegeben hatte, oder „Judaverrecke!“ das bisher bestehende gute Klima unter den jüdischen undnichtjüdischen Bürgern. Das ständig verabreichte Gift blieb in derBevölkerung nicht wirkungslos. Die Brüder Max und Wilhelm hatten noch das Glück, am 01.01.1928 inSpeyer, das 50-jährige Geschäftsjubiläum zu begehen (10), obwohl dieschrille antisemitische Propaganda der NSDAP auf den Straßen nichtmehr zu übersehen und zu überhören war. Aber wie viele Zeitgenossen inder Weimarer Republik, einer „Demokratie ohne Demokraten“ - es gabsolche Bürger, die sie heftig beschimpften - klammerten sie sich nochan die Kraft der Hoffnung. Als nach der griechischen Sage das böseWeib Pandora ihre Büchse öffnete, flogen alle Übel heraus undverbreiteten sich überall, einzig die Hoffnung, griech. Elpis, bliebdarin zurück. Ende Januar 1933 kamen die Nationalsozialisten mitGetöse an die Macht und ließen sich von keiner Opposition mehrverdrängen. Der Rassenmythos wurde zur Ersatzreligion, der sich hauptsächlichgegen die Juden richtete. Die Pfalz erhielt nun den Zusatz „GauSaarpfalz“, ab sofort galt der „deutsche“ Gruß: „Heil Hitler“, an denFenstern hingen rote Hakenkreuzfahnen und die Straße Am Wasserturmwurde in „Adolf-Hitler-Straße“ umbenannt. Durch das Altpörtelmarschierte die SA singend Deutschland, Deutschland über alles…und gleich darauf Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen… und antisemitische Lieder wie das eine, das u.a. lautete: „Wenn’s Judenblut am Messer spritzt, geht es noch einmal so gut“. Es klang in jüdischen Ohren mehr als bedrohlich. Aus Anlass der XI.Olympischen Sommerspiele (11), die 1936 in der Reichshauptstadt Berlinausgetragen wurden, wetteiferten nicht nur die Nationen um Medaillen -die meisten gingen an Deutschland - sondern die Nationalsozialisteninszenierten eine protzige Propagandaschau ihrer Regierungsform. DasNS-Regime lockerte den Verfolgungsdruck auf die Bürger jüdischenGlaubens im ganzen Reich, aber nur mit Rücksicht auf die zahlreichenBesucher aus dem Ausland. Vorübergehend. Die großen Verdienste der Familie Mayer um Stadt und Land wurden alsSchwindel erklärt und waren schnell vergessen. Die Firmenleitungbegriff sofort, dass es unter den geltenden politischen Verhältnissennur eine Rettung gab: die Auswanderung in die Fremde und in dasUngewisse. Für die Aufgabe des Unternehmens erhielten die Mayers, am28.04.1937, im Zuge der „Arisierung“ jüdischen Eigentums eineAblösesumme von 100.000 Reichsmark (12), auch wenn der Betrag weitunter dem reellen Wert der Anlage lag. Das Unternehmen hieß nun FirmaMünch, Arnold & Co. Der Zeitzeuge Emil Fertig berichtete sehr anschaulich: „Als ich zum01.05.1937 als kaufmännischer Lehrling bei der Firma Münch, Arnold &Co. eintrat, da lernte ich den alten Max Mayer und seinen Bruder Willynoch kennen. Max war noch mit der Liquidation seiner persönlichenGeschäftsunterlagen in seinem ehemaligen Chefzimmer befasst, obwohldie neuen Herren schon darin residierten. Der Max hatte eine etwasunangenehme Eigenschaft: Seine Aussprache war sehr laut und vor jedenseiner Sätze setzte er ein unüberhörbares „Äääh“. Es war am zweitenoder dritten Tag meiner Lehrlingstätigkeit, als von drinnen aus demChefzimmer der laute Ruf ertönte: „Ääh, Ämil kumm mol rei!“ Drinnensaß Max Mayer auf dem Boden zwischen aufgestapelten Aktenordnern undsagte zu mir: „Ääh, schnapp der was’d traache kannschst, mir vabrennenjetzt de Max Mayer!“ Als hätte er eine Vorausahnung des Unheilsgehabt, das zwar langsam, aber umso sicherer herannahte. Denn im Sinne der Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz vom14. November 1935 waren die Mitglieder der Familie Marx Mayer„Volljuden“, und ihre Frauen keine Arierinnen. Damit bewegten sie sichalle in einem Raum, der politisch rechtlos und gefährdet war (13).Nach Aussage der Zeitzeugin Renate Groves-Bohlender war bereits 1933als erster Sohn Wilhelm mit seiner Frau Rosi und Sohn Erwin über dasfaschistische Italien (14) und die Republik Kuba, wo zehntausend Judenlebten (15), nach USA emigriert. Max zog im September 1937 von Speyernach Heidelberg, machte nach dem Novemberpogrom 1938 Bekanntschaft mitdem Konzentrationslager Dachau und wanderte im März 1939 nachGroßbritannien aus. Am weitesten emigrierte Eugen, nämlich nachNeuseeland, wo es zweitausend sechshundert Juden gab (16). Er fuhr mitseiner Frau Sophie dorthin und ging dort einer völlig neuenBeschäftigung nach: er gründete eine Farm. August hatte Glück im Unglück. Er überlebte sowohl dasKonzentrationslager Dachau als auch das Internierungslager Gurs, denunmenschlichen Bedingungen zum Trotz. Das gelang seiner Mutter Sarahnicht. Sie überstand tapfer die Widerwärtigkeiten des Camp de Gurs ineinem schlammigen Gelände so lange bis sie völlig entkräftet am07.12.1943 dort elend umkam. Sie wurde 87 Jahre alt und wurde auf demInternierten-Friedhof beigesetzt. Ihr Name ist in die Bronzetafeleingraviert, die am Mahnmal für die Speyerer Opfer der NS-Verfolgungliegt, gegenüber dem Standort der im November 1938 von den Naziszerstörten Synagoge. Nach Kriegsende kehrten die ursprünglichen Firmeninhaber wieder nachSpeyer zurück, um ihre berechtigten Ansprüche geltend zu machen. Nachlangwierigen Verhandlungen erhielten sie im Restitutionsverfahren eineNachzahlung von 100.000 Mark - diesmal in Deutscher Mark. Sie teiltendie Summe unter sich und fuhren daraufhin in ihre neue Heimat zurück.Max starb 1947 in London, Wilhelm auf Kuba. August lebte 1960 noch inAnnecy in den französischen Alpen. Die Gebäude der ehemaligenHandelsfirma „Marx Mayer und Co“ fielen 1982 gänzlich der Abrissbirnezum Opfer. Heute ist das große Gelände noch immer unbebaut, alstrauere es ohne Unterlass um das Vergangene nach. (1) Dieses Kurzporträt basiert zum Teil auf einem Artikel, den EmilFertig in der „Speyerer Tagespost“ vom 16. und 17.01.1993veröffentlichte und dem Autor freundlicherweise zur Verfügung stellte.Die Lehrerin Renate Groves-Bohlender, Lingenfeld, steuerte dazuweitere, wertvolle Informationen. (2) Vgl. „Jüdisches Leben in Hockenheim - Ein Teil unsererStadtgeschichte“, Hockenheim 1998. Die jüdische Gemeinde Hockenheimzählte im Jahre 1809 einundzwanzig Mitglieder. Seit 1827 gehörte dieGemeinde zum Rabbinats-Bezirk Heidelberg und erbaute 1833 eineSynagoge in der Ottostraße. Ihren Höchststand erreichte sie 1864 mit146 Personen. Sie betrieben Handel mit Vieh, Tabak, Lebensmitteln undStoffen. Sie liehen auch Geld gegen Zinsen aus. Im Jahre 1925 wurdennur noch 25 Mitglieder gezählt, da viele in die Städte zogen oderauswanderten. In der NS-Zeit wurde die Synagoge zerstört, aber derkleine Friedhof in der Heidelberger-Straße blieb erhalten. EinigeGemeindemitglieder kamen in den Lagern des Ostens um. (3) Vgl. die Speierer Zeitung vom 06.12.1905. (4) Vgl. das Adressbuch der Stadt Speyer 1908. (5) Vgl. die Speierer Zeitung vom 08.12.1908 (6) Bertha von Suttner, eine in Prag geborene Gräfin Kinsky, warVerfasserin von mehreren Schriften. Als Vizepräsidentin desinternationalen Friedens-Büros in Bern regte sie den schwedischenChemiker Alfred Nobel bei einem Treffen in Zürich im Jahre 1892 an,einen Friedenspreis zu stiften, den sie selbst 1905 erhielt. Sieverstarb in Wien am 21.06.1914, nichts Gutes ahnend, zwei Monate vorBeginn des Ersten Weltkriegs und dem darauffolgenden ZusammenbruchEuropas. (7) Vgl. die Speierer Zeitung vom 01.06.1917. (8) Das „König-Ludwig-Kreuz“ wurde am 07.01.1916 in der königlichenMünze in München gestiftet. Das Grundmetall ist Bronze. Das Kreuzerhielt eine schwarze Tönung, dem Ernst der Kriegszeit entsprechend.Die Mitte des Kreuzes zeigt das Bild des Königs in Hochrelief. DieRückseite trägt auf einem Rautenschilde den Stiftungstag. Das Militärtrug die Auszeichnung im zweiten Knopfloch von oben, Zivilisten aufder linken Brustseite. (9) Im Jahre 1938 erreichte „Der Stürmer“ eine Auflage von einerhalben Million Exemplaren. Vgl. „Jüdisches Leben in der Pfalz“ vonBernhard Kukatzki, S. 110. Das Blatt wurde auch als Wandzeitungausgehängt, damit es eine noch größere Wirkung auf dieVolksgemeinschaft ausübte. (10) Vgl. die Speierer Zeitung vom 31.12.1927 (11) Die Olympischen Spiele kehrten dieNationalsozialisten in eine Partei-Großveranstaltung um ohne Rücksichtauf den Geist Olympias. Dieser plädiert für eine Welt freier undfriedvoller Menschen, unabhängig von politischen, sozialen, rassischenund religiösen Einstellungen. Der Eindruck, den die Spiele im Auslandhinterließen, war infolgedessen gespalten, und die Bedenken gegenüberHitler-Deutschland wurden nicht entkräftet. Vier Jahre später, 1940,fanden keine Spiele mehr statt, weil bereits der Zweite Weltkriegtobte. (12) Vgl. das Firmenregister des LudwigshafenerAmtsgerichtes unterm 28.04.1937. (13) Das gilt ebenso für alle porträtiertenPersonen jüdischen Glaubens dieser Schrift. (14) Der italienische Faschismus ist mit demdeutschen Nationalsozialismus nicht gänzlich gleichzustellen. Gleichwar das autoritäre und nationalistische System, anders die Art derDurchführung. Die von Benito Mussolini 1919 in Mailand gegründetePartei herrschte über alle Lebensbereiche unter Ausschaltung derParteien, Gewerkschaften und der freien Presse. Die Stellung desKönigshauses, des Senats, der Armee und der Kirche blieben jedochtrotz Einschränkungen erhalten. Außenpolitisch erstrebte diefaschistische Partei die Wiederherstellung des altrömischen Imperiumsauf Kosten der Nachbarländer Frankreich, Griechenland und Albaniensowie Äthiopien. Die Rassenlehre war der Partei völlig fremd. Erstunter dem deutschen nationalsozialistischen Einfluss wurden die Judenseit 1938 aus maßgeblichen Stellungen entfernt. Konzentrationslagerentstanden aber nicht. Erst nach den italienischen Niederlagen imZweiten Weltkrieg und dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 setzte dieJudenverfolgung ein. (15) Vgl. „Philo Atlas, Handbuch für die jüdischeAuswanderung“, Berlin 1938. (16) Ebenda. 22.09.2011 5. SIGMUND MAYER Sigmund Mayer erblickte am 13.10.1843 in Niederhochstadt, jetztHochstadt / Pfalz, das Licht der Welt. Es war das Jahr, als vielerortsin Deutschland Festlichkeiten zu „1000 Jahre Deutsches Reich“stattfanden. Bei der Teilung des karolingischen Reiches hatte nämlichKönig Ludwig der Deutsche - 843 bis 876 - im Vertrag von Verdun dieHerrschaft über das ostfränkische Reich zugeteilt erhalten. Dazupassend gab Sigmunds Vater Alexander dem neuen Erdenbürger denurdeutschen Vornamen, der „Siegschutz“ bedeutet. Seine Mutter Regina,geb. Seligmann, stammte aus Kleinfischlingen bei Landau. Sigmund bliebihr einziges Kind. Über seine Jugendzeit ist, wie so oft bei diesenPorträtierten, kaum etwas bekannt. Nach abgeschlossenerBerufsausbildung wurde er, dem Beispiel seines Vaters folgend,Kaufmann in der Spirituosen- Branche. Aus dem Heiratsregister geht hervor, dass Sigmund sich um 1868 inHochstadt mit der gleichaltrigen Frau Clara, geb. Hirsch, ausDeidesheim vermählte. Sie brachte ebenfalls dort am 20.02.1869 denSohn Ludwig zur Welt. Es sollte ihr einziges Kind bleiben, denn sieverstarb, nur dreißigjährig, 1873. Um dem kleinen Ludwig mütterlicheFürsorge zu gewährleisten, heiratete Sigmund am 25.02.1874 wieder inHochstadt Bertha, geb. Scharff, aus Kleinfischlingen. Diese zweiteFrau schenkte ihm vier weitere Kinder: Hermine, geb. 1874, Ernst,1875, Otto, 1877, und Julie, 1878, die alle in Hochstadt zur Weltkamen. Im Oktober 1880 zog Sigmund, 37-jährig, mit seiner „Mischpoche“ (1)nach Speyer, da er sich in der Domstadt bessere Verdienstmöglichkeitenerhoffte. Sicher spielte bei der Überlegung, dorthin zu ziehen, auchder Umstand eine Rolle, dass seine Frau einen jüngeren Bruder, Lazarus(2), und eine ältere Schwester, Rosina, (3) verh. Josef, hatte, die inSpeyer in gut situierten Verhältnissen lebten. Die Mayers wohnten inder Schützen-Straße 11, wo Sigmund zusammen mit seinem Sohn Ernst,genannt dem Zweiten, (4) sich sehr bald die Hochachtung der neuenBürger durch die Tüchtigkeit und Ehrlichkeit ihres Berufs alsSpirituosen-Fabrikanten erwarben. In seiner Spirituosen-Produktionentfiel der Hauptteil auf Liköre, es handelte sich dabei umBranntwein. ( Ein Foto aus dieser Zeit liegt dem Stadtarchiv leidernicht vor. Unser Foto zeigt das Gebäude im Jahre 2011, Foto: sim) Sigmund und seine Frau erlebten erfüllte Zeiten, aber es fehltendunkle Tage auch in ihrem Leben nicht. Plötzlich erkrankte ihrejüngste Tochter Julie an Lungentuberkulose. Die Symptome wareneindeutig: Fieber, Schwitzen bei Nacht, Appetitlosigkeit, Müdigkeit,Husten, Brustschmerzen und Atemnot. Setzte sich das bleiche Mädchenmit der tödlichen Krankheit auseinander, wenn es im Bett vomlangwierigen Husten geschüttelt wurde? Die Eltern wussten sich keinenRat, und die Ärzte, die damals noch über keine Antibiotika verfügten,standen dieser Krankheit fast völlig hilflos gegenüber, die jährlichüber 200 000 Menschen allein in Deutschland das Leben kostete. Sosiechte Julie trotz bestmöglicher Pflege dahin, bis sie am 30.05.1897,mit 19 Jahren, von ihrem Leiden erlöst wurde. Die Bäume standen geradein voller Blüte und die Vögel trällerten um die Wette. Nicht Sigmundhätte Julie, sondern Julie hätte ihn beerdigen müssen, denn denweitaus größten Teil ihres Lebens hätte sie noch vor sich gehabt. DasSchicksal hatte anders entschieden. Licht und Schatten, Freud‘ und Leid liegen sehr nahe beieinander wiezwei Seiten einer Medaille. Nur fünf Monate nach dem Verlust seinerjüngsten Tochter feierte Sigmund die Hochzeit der ältesten TochterHermine mit einem lachenden und einem weinenden Augen. Sie vermähltesich am 26.10.1897 in Offenburg an der Kinzig mit dem BankprokuristenRaphael Zivi aus Basel und übersiedelte zu ihm in die Schweiz. Indiesem Land der Demokratie und Neutralität lebten damals 20 000 Juden,davon die meisten 6000 in Zürich und 2600 allein in Basel (5). Wie viele andere Juden trieb ungestilltes Verlangen auch die SöhneLudwig und Otto in die Ferne, in das Land mit dem Sternenbanner (6),wo damals ein Drittel aller Juden zuhause war. Sie emigrierten mitEntlassungsurkunden des „königlich bayerischen Unterthans-Verbandes“nicht aus Abenteuerlust, sondern um aus der Enge des Obrigkeitsstaatesauszubrechen. Ihre neue Heimat wurde Eunice, nordwestlich vonLafayette, im US-Bundesstaat Louisiana, dessen Motto lautet: „Union,justice and confidence“. Welche Tätigkeiten sie dort entfalteten, istunbekannt, vermutlich als Geschäftsleute. Nur Ernst, der zweitältesteSohn der Familie, blieb zurück und ledig. Er fühlte sich verpflichtet,in der Spirituosen-Fabrik seines Vaters weiter zu arbeiten, um einstdas väterliche Erbe anzutreten. Dabei unterstützte ihn der Kontoristund Stenographie-Lehrer Philipp Back. Seit dem 01.07.1900 wohnte Sigmund in dem Haus mit dem großen Tor,Schützenstraße 7, Telefon-Nr. 87, wo er die Likör- und Essigfabrik miteiner Weinhandlung weiter ausbaute, die er mit seinem Sohn auf einenansehnlichen Stand brachte, nicht nur in der Pfalz, sondern auchdarüber hinaus. Er war als Gründer und zuletzt als Vorsitzender despfälzischen Spirituosen-Interessenten-Verbandes tätig. Er machte sichauch nach dem jüdischen Gebot der „Zedaka“, d.h. Wohltätigkeit, in derFürsorgepflege durch Spenden an Hilfsbedürftige verdient, um so dieWelt etwas gerechter zu gestalten. Darin waren Juden oft großzügigerals die Christen, wenn diese im Sinne der „Caritas“ spendeten. ImJahre 1909 spendete er dem neuen Verein für das IsraelitischeAltersheim für die Pfalz e.V. (7) einen Betrag. Doch es liefgeschäftlich nicht immer alles reibungslos. Was war geschehen? Um die Mittagszeit des 20.11.1912 wurde der Betrieb von einemGroßfeuer heimgesucht, das höchste Aufregung verursachte. Der Brand aneiner so markanten Stelle zwischen St. Josef- und Gedächtniskirchelockte sofort eine Menschenmenge an, darunter Adolf Ritter von Neuffer(1845-1924), Regierungspräsident und Ehrenbürger der Stadt (8), mitGattin, Dr. Ernst Hertrich, (9) erster Berufsbürgermeister von Speyer,und mehrere Offiziere, um nach den Brandursachen zu fragen: War dasGroßfeuer auf Explosion, Fahrlässigkeit oder Brandstiftungzurückzuführen? Voller Spannung verfolgten sie den Verlauf derLöscharbeiten. Die sofort ausgerückte Feuerwehr hatte in der TatSchwerstarbeit zu leisten, der Schaden war beträchtlich, aber siekonnte ein größeres Unglück verhindern. Zwei Tage später sprach derFabrikbesitzer in einer Danksagungsanzeige (10) der hiesigen Feuerwehrfür ihr umsichtiges Eingreifen und allen Anwesenden für ihr bekundetesInteresse seine aufrichtige Anerkennung aus. Am 15.06.1913 beging Kaiser Wilhelm II. sein 25jährigesRegierungsjubiläum und wurde als „Mehrer des Reiches“ gefeiert, wobeidie Sonderstellung Preußens erhalten blieb. Am 13.10.des gleichenJahres konnte Sigmund im Kreise seiner verkleinerten Familie den 70.Geburtstag begehen. Freunde und Bekannte gratulierten ihm mit einemherzlichen „Zum Geburtstag viel Glück“ sowie „Mazel Tov bis 120!“(11). Es war auch der Tag, an dem die Stadt die Jahrhundertfeier dersiegreichen Völkerschlacht bei Leipzig gegen Napoleon I. in reichemFlaggenschmuck feierte. Der Turnverein beging das Fest mit einemFackelzug zum Denkmal vom Turnvater Friedrich Ludwig Jahn in derBahnhof-Straße. In den Gottesdiensten der verschiedenenGlaubensrichtungen - also auch in der Synagoge - wurde ebenfalls mitviel Pathos des historischen Ereignisses gedacht. Weitere recht schwierige Jahre durch Ausbruch, Verlauf und Ende desErsten Weltkriegs zogen ins Land, die zu verhindern gewesen wären,wenn sich die Politiker der klugen Einsicht von Albert Ballin (12),dem Großreeder Kaiser Wilhelms II., nicht verschlossen hätten. Dieerste deutsche demokratische Republik, die am 11.08.1919 in Weimarentstand, weil Berlin damals kein ruhiges Pflaster war, aber auch weilsie vom Geiste dieser Stadt der Klassiker und weniger vom Geist vonPotsdam, das heißt von preußischer Tradition, geprägt sein sollte,steckte wiederholt in schweren Krisen. Diese gefährdeten ihr Überlebenund begünstigten links- wie rechtsgerichtete Kreise. Im Jahre 1920 erreichte Sigmund die Mitteilung aus der Schweiz, dassseine älteste Tochter Hermine im Alter von erst 46 Jahren, wiederumviel zu früh, verstorben war. Ein neuer, schmerzlicher Verlust! In dieser unruhigen Zeit schockierte ihn, wie alle Bürger jüdischenGlaubens in der Weimarer Republik die Nachricht, dass derIndustrielle, Schriftsteller und Reichsaußenminister in der RegierungJoseph Wirths, Walther Rathenau, am Vormittag des 24.06.1922 einemAttentat zum Opfer gefallen war. Damit bezahlte er angeblich seine„Erfüllungspolitik“. Er hatte seine Wohnung in Berlin-Grunewaldverlassen, um sich in das Auswärtige Amt zu begeben, als er von einemauf gleicher Höhe fahrenden Auto aus erschossen wurde. Der 54-jährigeliberale DDP-Politiker war sofort tot. In Wirklichkeit war er auf dembesten Weg, die Republik zu retten, was die drei Attentäter derOrganisation Consul, OC, nicht wollten. Völkische Studenten hatten jaschon oft davor gesungen: „Auch Rathenau, der Walther, erreicht kein hohes Alter. Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Rathenaus Mutter, die 80-jährige Mathilde, schrieb einen Brief an dieMutter eines der Attentäter und verzieh ihm im Namen des Ermordeten. Ein Jahr danach, als die Inflation ihren Höhepunkt erreichte, dennMillionenbeträge waren damals nur Pfennige wert - besonders derMittelstand verarmte, etliche nahmen sich sogar das Leben - feierteSigmund schlicht seinen 80. Geburtstag. Im Juli 1924 musste er sichfür immer von seiner Frau Bertha trennen, die fast 75-jährig,plötzlich und unerwartet, verstarb. Nur zwei Jahre später, am heiligen Sabbat (13), dem 28.08.1926,beendete auch Sigmund seine irdische Laufbahn. Er wurde bei seinerFrau auf dem südlichen Feld des jüdischen Friedhofs bestattet. DiePresse ehrte ihn mit einem Nachruf (14). Er hatte Abschied von derWelt genommen, sicher im klaren Bewusstsein, nicht umsonst gelebt zuhaben. Seine Frau und Töchter waren ihm vorausgegangen. Über seineSöhne in Louisiana brauchte er sich keine Sorgen zu machen, denn siewürden weiterhin ihren Weg gehen. Aber er wusste nicht, was seinemSohn Ernst durch politische Entwicklungen noch bevorstehen könnte. Waswürde aus der Fabrik, seinem Lebenswerk, werden? Oder hatte er dochböse Vorahnungen? Nun übernahm der 51jährige Ernst, wohl oder übel, das nicht leichteväterliche Erbe: Eigentum bindet und sich davon zu lösen, ist nichtjedermanns Sache. Er führte die Fabrik in der Weimarer Republikweiter, die in ihrer Verfassung - der Entwurf dazu stammte vom HugoPreuss - (15) den Juden Gewissensfreiheit und freie Ausübung ihrerReligion zugesichert hatte. So hoffte er in einer parteipolitischimmer schwieriger werdenden Zeit stets auf eine Besserung der Lage. Ineiner Anzeige Ende November (16) lud er die Kundschaft ein, für diebevorstehenden Feiertage die seit vielen Jahren bekanntenQualitätswaren der SPEIERER LIKÖRFABRIK Alex. Mayer Sohn zu bestellen. Die Anfangsjahre der NS-Diktatur ließen nichts Gutes für die Folgezeiterwarten. Die Mahnung der Nazis: „Deutsche, wehrt euch, kauft nichtbei Juden“ bewirkte, dass sich kaum noch ein Kunde traute, ErnstsLaden zu betreten. Deshalb verkaufte er im Rahmen der sogenannten„Arisierung“, das heißt der erpressten Überführung jüdischen Besitzesin die Hände nichtjüdischer Firmen oder Privatleute, die Fabrik weitunter Wert, um zu retten, was noch zu retten war. Danach schlug ersich als Gelegenheitsarbeiter in einer ihm gleichgültig bis feindseliggesinnten Stadt mehr schlecht als recht durchs Leben, das kein Lebenmehr war. Am 27. und 28.10.1938 verhafteten die Nationalsozialisten im DrittenReich lebende polnische Juden - viele waren vor dem in Polenherrschenden Antisemitismus nach Deutschland geflohen - und schobensie an die Grenze Polens ab. Zu diesen Ausgewiesenen gehörte einachtzehn Jahre junger Mann, der spätere Literaturkritiker MarcelReich-Ranicki. Nach anfänglicher Ablehnung musste der polnische Staatsie doch aufnehmen. Darunter befanden sich die Eltern des 17-jährigenHerszel Grynszpan, der den Botschaftsrat Ernst vom Rath am 07.11.1938in Paris aus Rache für die erste Judendeportation niedergeschossenhatte. Wegen dieser Deportation erfasste auch Speyerer Juden (17) einequälende Unruhe. Als Vergeltungsmaßnahme des NS-Staates erlebte Ernst Mayer, wie dieSpeyerer Synagoge in der Nacht vom 09. auf den 10.11.1938 -euphemistisch „Reichskristallnacht“ genannt wegen der vielenGlassplitter auf den Straßen - von SA-Männern in Zivil geplündert undin Brand gesteckt wurde. Die Flammen schlugen hoch in den Himmel. DieSirene heulte, aber die Feuerwehr beschränkte sich darauf, dieumliegenden mit viel Holz gebauten Häuser vor Funkenflug zu bewahrenund das Feuer unter Kontrolle zu halten. Eine Menge Leute schaute zu -mit gemischten Gefühlen. Auf dem jüdischen Friedhof wurden Grabsteinebeschädigt und Inschriften zerschlagen. Alle Spuren der Verwüstungwurden jedoch schleunigst beseitigt, um über diesen Akt der Barbareischnellstens Gras wachsen zu lassen. Nach Aussagen des ZeitzeugenBerthold Böttigheimer (18) verlief der Pogrom in der Domstadtglücklicherweise nicht so schlimm wie in anderen Städten des DrittenReiches. Den deutschen Juden erlegte der NS-Staat in zynischer Weisezum erlittenen Schaden noch eine Kontribution von einer MilliardeReichsmark auf. Zwei Tage danach wurden die männlichen Juden in Schutzhaft genommen.Ihre Frauen und Kinder mussten die Pfalz verlassen. Wie dreiundzwanzigweitere Leidensgenossen hatte Ernst in Anwesenheit von SA-Leuten, desOberbürgermeisters, Karl Leiling, und des Notars Dr. Siegel einjuristisch umstrittenes Dokument zu unterzeichnen. Darin erklärte ersich „einverstanden“, auf sein Vermögen zu verzichten und dessenVerwaltung - auch über seinen Tod hinaus - auf denKreiswirtschaftsberater der Nationalsozialistischen DeutschenArbeiterpartei (NSDAP), Ludwig Müllberger, zu übertragen. Anschließendwurden sie alle in das Konzentrationslager bei Dachau (19) deportiert. Allein der Name dieses Lagers rief damals bei allen Speyerer Bürgern -sie sagten dazu Auchda! (20) - unabhängig von ihrer persönlichenEinstellung, Angst und Schrecken hervor. Es war das erste und einzigeLager, das während der zwölf Jahre andauernden NS-Herrschaft bestand.Dort wurde den Männern der Kopf wie Schafen geschoren, sie wurden inHäftlingskleidung gesteckt und der reinen Willkür der SS-Bewacherausgeliefert. Besonders gefürchtet war das stundelange Strafstehen aufdem Appellplatz, das aus dem geringsten Anlass und bei jedem Wetterangeordnet wurde. Es versteht sich von selbst, dass die schwerstenArbeiten, wie das Ziehen der Straßenwalze und des sogenanntenMooren-Expresses oder die Entleerung der Latrinen, den Judenvorbehalten waren. Ernst Mayer blieb und litt in diesem Lager vom 12. bis 28.11.1938, alser entlassen wurde, aber erst, nachdem er eine acht Punkte umfassendeVerpflichtungserklärung unterzeichnet hatte, dass er über dieVorkommnisse im Lager kein einziges Wort „verlieren“ … und dass ersich bei der Ortspolizeibehörde melden würde. Verängstigt, zutiefstgekränkt und gedemütigt kehrte er, abgemagert, nach Speyer zurück. Anmanchen Stellen musste er da die Worte lesen „Für Juden verboten“, sodass er sich wie ein Leprakranker, jedenfalls wie ein ungern gesehenerFremder, vorkam. Seine bisherigen Mitbürger waren jetzt nur noch -dieDeutschen. Ob er noch in letzter Minute versuchte, Nazideutschlandden Rücken zu kehren und zu seinen Brüdern nach Eunice auszuwandern,um in Freiheit zu leben, ist nicht bekannt. Nach dem Sieg Hitler-Deutschlands über Frankreich, am 22.06.1940,stand der Name Ernst Mayer auf der Liste der 51 Speyerer Juden, die imRahmen der Abschiebeaktion (21) des Gauleiters von Baden, RobertWagner, und des Gauleiters der Saarpfalz, Josef Bürckel, „imEinvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht“ (22) am22.10.1940 von der Domstadt in das Lager Gurs (23), nördlich derPyrenäen, deportiert wurden. Die Vichy- Regierung forderte zwar denRücktransport der Deportierten, weil diese vereinbarungsgemäß keineJuden aus Elsass-Lothringen waren, aber das Dritte Reich blieb hart.Einige von den Unglücklichen betrieben gerade ihre Auswanderung undwarteten nur noch darauf, dass ihre Nummer an die Reihe kam (24). Nach einer Reise, die vier Tage und drei Nächte dauerte - derPersonenzug hielt außerhalb von Ortschaften, damit die Bevölkerungnichts mitbekam - wurde Ernst auf 900 Meter Höhe mit 70 bis 80männlichen Leidensgenossen in einer zunächst völlig leeren, kalten undfensterlosen Holzbaracke Mann an Mann untergebracht. Nur Holzklappenbeleuchteten den Raum spärlich. Der Schlamm, das Ungeziefer und dieLatrine wurden zu einem großen Problem, und der Hunger plagte ihnständig. Kurzum, es herrschten insgesamt katastrophaleLebensverhältnisse. Täglich verzeichnete man etwa 15 Todesopfer. Um dieses überbelegte Lager zu entlasten, wurde Ernst Mayer mitanderen Mithäftlingen im Frühjahr 1941 ins kleinere Nebenlager LeRécébédou, südlich von Toulouse, verlegt, wo die hygienischenVerhältnisse etwas besser waren als in Gurs. In diesem Nebenlagererlag er am 07.02.1942 im Alter von 67 Jahren den Folgen derDeportation, noch bevor es ab Sommer des gleichen Jahres zurVorstation des Vernichtungslagers Auschwitz bestimmt wurde. Zunächstfand sein Leichnam eine provisorische Ruhestätte auf dem FriedhofPortet St. Simon. Nach Kriegsende sorgten seine Brüder dafür, dassseine sterblichen Überreste nach Speyer überführt und auf demjüdischen Friedhof bestattet wurden. Ernst Mayer war wieder in die Stadt zurückgekehrt, die zu seinerHeimat geworden war, zu den Eltern und zur Schwester Julie, um seineletzte Ruhe zu finden. --------------------------------------- (1) Mischpoche ist das hebräisch-jiddische Wort für Familie,Verwandtschaft oder Sippe. Es wird auch im abschätzigen Sinne benutzt. (2) Lazarus Scharff, Jahrgang 1854, betrieb eineKolonialwarengroßhandlung auf der Maximilian-Straße 68, wo es immerwürzig duftete. Seine Frau Karolina und Tochter Frieda arbeiteten imGeschäft mit, gemeinsam mit dem Personal. Lazarus übte vielMildtätigkeit im Verborgenen, was doch publik wurde. Der Vorbesitzerwar Maximilian Joseph. (3) Maximilian Joseph, 1829 in Blieskastel geboren, heiratete 1860Rosina, geb. Scharff, wurde Kaufmann in der Speyerer Maximilian-Straße68 und starb im Jahre 1909. (4) Dies wurde erforderlich, um Ernst von dem gleichnamigen Sohn desTextilkaufmanns Simon Mayer in der Maximilianstraße 89 zuunterscheiden. Sein Vater wurde der „Schnappsmayer“ genannt. (5) Vgl. „Philo Atlas, Handbuch für die jüdische Auswanderung“,Jüdischer Buchverlag, Berlin 1938. Im Jahre 1897 fand in Basel derErste Zionistenkongress unter der Leitung des Journalisten TheodorHerzl statt. Weitere Kongresse tagten ebenfalls in Basel, aber auch inanderen europäischen Städten. Seit 1951 findet der Kongress regelmäßigin Jerusalem statt. Über die Hälfte der Schweizer Juden, 58 Prozent,leben in Kantonen mit deutscher Amtssprache. (6) In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen dieVereinigten Staaten von Nordamerika als neues „Gelobtes Land“ ihreAnziehungskraft auf die Juden der Welt auszuüben. Viele fingen dortals Hausierer an, wurden dann Kleinkrämer und Großkaufleute. Nach demBürgerkrieg von 1861 bis 1865 stiegen mehrere von ihnen zu angesehenenIndustriellen und Finanziers sowie zu gefeierten Musikern und Komikernauf, auch wenn sich antisemitische Tendenzen bemerkbar machten. Siewaren zu echten „Yankees“ geworden. Stets zeigten sie sich bereit,ihren in Not geratenen Stammesgenossen unter die Arme zu greifen undsie zu fördern. (7) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer. (8) Er war Regierungspräsident von 1902 bis 1918 und erhielt dasEhrenbürgerrecht 1910 wegen seiner Verdienste um die Erbauung desHistorischen Museums der Stadt Speyer. Die Neuffer-Straße erinnert anihn. Vgl. „Speyer, kleine Stadtgeschichte“ von Fritz Klotz, S. 190. (90) Der Rechtsrat Ernst Hertrich hatte auf der Liste der Liberalenfür das Amt des Bürgermeisters kandidiert und wurde 1911 - vor hundertJahren - gewählt. Er förderte Handel, Gewerbe und Industrie undverbesserte die Verkehrsverbindungen. Zudem erkannte er die Bedeutungdes Fremdenverkehrs und veranlasste, dass Dienst- undGehaltsverhältnisse der Beamten, Lehrer und Arbeiter denZeiterfordernissen angepasst wurden. Bereits fünf Jahre nachDienstantritt fiel er als Hauptmann bei den schweren Kämpfen an derSomme /. Nordfrankreich. Die Stadt hat am Friedhof einen Weg nach ihmbenannt. Vgl. „Speyer von den Saliern bis heute“, von F. Schlickel S.112. (10) Vgl. die Speierer Zeitung vom 22.11.1912. (11) Der Ausdruck Mazel Tov heißt Gut Glück, ist ursprünglichhebräisch, wurde aber ins jiddische übernommen. Es wird bei vielenGelegenheiten verwendet, auch als Trinkspruch beim Zuprosten. 120Jahre alt sollen Mose und der hohe Rabbi Jehuda Löw bar Bezalel ausPrag geworden sein. (12) Der 1857 in Hamburg geborene Albert Ballin erlebte vier Kriege:1864 den Deutsch-Dänischen Krieg, 1866 den Krieg Preußens mitÖsterreich und 1870 /71 den Deutsch-Französischen Krieg. Aber erplädierte stets als konservativer Politiker für eine Zusammenarbeitmit Großbritannien. Am Ende des Ersten Weltkriegs, den 09.11.1918,verübte er Selbstmord. (13) Diese Angabe enthält die hebräische Inschrift auf seinemGrabstein. (14) Vgl. die Speierer Zeitung vom 30.08.1926. (15) Der Berliner Hugo Preuss war seit 1906 Professor für ÖffentlichesRecht an der dortigen Handelshochschule und Journalist. Nach 1918wurde er Reichminister des Inneren, trieb Reformen zum Frauenwahlrechtvoran und gilt als Schöpfer der Weimarer Verfassung. Aus Protest gegendie Bedingungen des Versailler Vertrags trat er 1919 vom Amt desInnenministers zurück. Er war jüdischen Glaubens. (16) Ebenda vom 29.11.1927. (17) Freundliche Mitteilung von Gunther Katz in seinem Brief vom05.07.2010 an den Verfasser. (18) Vgl. Ute Michaela Holzmann in „Die Juden in Speyer im DrittenReich“, Facharbeit in Geschichte, Seite 19. (19) Das Lager wurde am 22. März 1933 errichtet, um politische Gegnerdes NS-Staates zu inhaftieren. Von 1936 an wurde es systematischausgebaut. In über 150 Außenlagern mussten Häftlinge Zwangsarbeit fürdie Rüstungsindustrie leisten. Neben dem Lager befand sich derGarnisonbereich, in dem die SS-Führer und Wachtruppen ideologisch wiemilitärisch gedrillt wurden. Truppen der US-Armee befreiten dieletzten Häftlinge am 29.04.1945. Das Lager ist jetzt KZ-Gedenkstätte,verfügt über eine jüdische Gebetsstätte, eine evangelischeVersöhnungskirche und eine katholische Todesangst Christi-Kapelle. EinMuseum mit Fotos und Dokumenten ist alljährlich Ziel von einer MillionBesuchern aus dem In- und Ausland. (20) Nach Aussage der Zeitzeugin Eleonore Winkler bei einerVeranstaltung am 27.10.2010 im Historischen Ratssaal in Speyer. (21) Die sogenannte „Bürckel-Aktion“ wurde im Sinne Adolf Hitlers vomGauleiter der Westmark, Josef Bürckel, und Robert Wagner, demGauleiter von Baden, initiiert. Ihr fielen zum Opfer 7.500 Juden,Männer, Frauen und Kinder, rund tausend Menschen mehr als offiziellbekannt gegeben. (22) Das Zitat stammt aus dem Brief des Chefs der Sicherheitspolizeiund des SD, Reinhard Heydrich, vom 29.10.1940 an denSA-Standartenführer Luther im Auswärtigen Amt. (23) Das Lager lag 54 km südlich von Pau und war mit 325 Baracken dasgrößte von rund 100 Internierungslagern in Frankreich. Im Frühjahr1939 hatte es zur Aufnahme von Flüchtlingen nach dem Ende desspanischen Bürgerkriegs gedient. Es gehörte dann in denZuständigkeitsbereich der Vichy-Regierung, die eng mit dem NS-Staatzusammenarbeitete. Die nächste Bahnstation war Oloron-Ste.-Marie, biszum Lager waren es noch 17 km. Im Oktober 1940 kamen diesüdwestdeutschen Häftlinge mit der Bahn an, wurden auf Lastwagen insLager gefahren und in den leeren Baracken untergebracht. Da begann dieTragödie. Der Dichter Louis Aragon schrieb über dieses Lager: „Gursist ein seltsamer Laut, wie ein in der Kehle steckengebliebenesStöhnen.Aber auch in diesem Ort der Barbarei wurde die Flagge derMenschlichkeit nicht eingezogen. Es gab Elsbeth Kasser, der „Engel vonGurs“. Diese 30jährige Krankenschwester aus der Schweiz mit blondenHaaren und blauen Augen leistete Großartiges, um den Internierten jedenur mögliche Hilfe zukommen zu lassen. Eine Überlebenshilfe boten auchKulturveranstaltungen, die die Lagerinsassen in Eigenregieorganisierten. Mittlerweile sind die Baracken verschwunden und einWald ist an ihrer Stelle gewachsen. Nur der Friedhof, nördlich desLagers, zeugt noch vom Leiden der Häftlinge. Vgl. „Camp de Gurs 1940“von Erhard Roy Wiehn (Hg.). (24) Vgl. Brief der Anna Haber vom 17.01.1940 im Archiv des Autors. 22.09.2011 4. DR. MED. ADOLF DAVID Theodor Davids Bruder Adolf (1) kam am 29.08.1830 in Speyer zur Weltals viertes von dreizehn Kindern der Eheleute Carl und dessen EhefrauFranziska, geb. Gernsheim. Als 18-jähriger Student beteiligte er sichaktiv an der demokratischen Revolution von 1848/49 (2), die in denMenschen so viele Hoffnungen erweckt und enttäuscht hatte. Nun beseeltvon dem Drang, den kranken Menschen zu helfen, widmete er sich in denfolgenden Jahren dem Medizinstudium (3) trotz seiner schwachenKonstitution. An der Universität Würzburg, wo damals Rudolf Virkowlehrte, schloss er 1855 das Studium mit dem Rigorosum ab. Danach vervollständigte er seine medizinischen Kenntnisse durch einweiteres Studium in Paris, wo 1860 die „Alliance IsraéliteUniverselle“,die erste weltweite jüdische Hilfsorganisation gegründetwurde als Antwort auf die Pogrome in Osteuropa und in anderen Ländern.Er praktizierte zuerst in Winnweiler, im Donnersbergkreis, und zog1860 nach Speyer, wo er sich schließlich 1861 als praktischer Arzt inseiner Vaterstadt niederließ. Zuerst hatte er seine Praxis mit Wartezimmer und Äthergeruch in derSchustergasse 8, wo er auch wohnte, dann zog er in die Ludwigstraße31. Diese Straße noch in Zentrumsnähe, die den Namen von König LudwigI von Bayern wegen dessen Verdienste um den Dom erhielt, schmücktendamals gutaussehende Häuser neben einstöckigen Behausungen, die spätermeist durch moderne Bauten ersetzt wurden. Im Januar 1862 heiratete Dr. David Sophie, geb. Jakobson, eine24-jährige Fabrikanten-Tochter aus Fulda. Am 08.12. des gleichenJahres wurde ihnen eine Tochter geboren, Franziska, ihr einziges Kind,und der Vater gab ihr den Namen seiner Mutter. Den Arztberuf übte Dr. David mit vorbildlicher Gewissenhaftigkeit undWürde aus im Zeichen des Äskulaps und in völliger Übereinstimmung mitdem Eid des Hippokrates. Nach Aussage der Zeitzeugin Liesel Jester (4)wurde er in Stadt und Land bald geschätzt und geliebt. Die Patientenschätzten seine Fähigkeit, die richtige Diagnose zu stellen, dieTherapie durchzuführen sowie seine Verschwiegenheit undDienstbereitschaft. Die ärmeren Leute liebten ihn, weil er sie ausMitgefühl und Nächstenliebe auch umsonst behandelte und ab und zu mitkleinen Geschenken überraschte, wie die Zeitzeugin weiter berichtete. Er gehörte mehreren Institutionen und Vereinen an. Er war Mitglied undspäter Ehrenmitglied des 1861 gegründeten „Turnvereins Speyer e.V.“(5), dessen vaterländische Bestrebungen er nach Kräften unterstützte,Mitglied des nationalliberalen Vereins und wurde 1864Gründungsmitglied der Speyerer Volksbank (6). Eine Nachricht, diesicherlich seine Zustimmung fand, war die, dass eine internationaleKonferenz im August 1864 in Genf - auf Veranlassung von Henri Dunant -die Konvention über humane Behandlung verwundeter und krankerKriegsgefangener unterzeichnete. Diese Konvention trug maßgeblich zurHumanisierung der Kriegführung bei. Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Speyerer Volksbank am15.10.1889 versammelten sich viele Bürger im festlich geschmücktenSaale des Wittelsbacher Hofs. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates, HerrStribinger, gab einen Rückblick auf die zweieinhalb JahrzehnteWirksamkeit des Kreditinstitutes, dankte den Gründern und überreichtedem Direktor Louis Levinger einen hohen, schön gearbeitetenSilberpokal. Dem Vorsitzenden schlossen sich weitere Redner an, dannwar Dr. David an der Reihe. Auch er dankte den ersten Gründern derVolksbank, wünschte, dass das Vertrauen der Kunden zur Führungsspitzeweiterhin wachse und brachte ein Hoch auf die Stadt Speyer aus, dasstürmische Zustimmung fand (7). Besondere Verdienste um Kranke und Verwundete erwarb sich derMediziner im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Speyer lag vomKriegsschauplatz nicht weit entfernt. Adolf eilte mit seinenFachkollegen zu den Verwundeten in den Lazaretten, heilte oderlinderte ihre Leiden. In Anerkennung dieser Verdienste verlieh ihmKaiser Wilhelm I. die stählerne Kriegsgedenkmünze, die für Zivilistenbestimmt war (8). Adolf begrüßte die Gründung des deutschen Reiches,die politische Einheit des Landes und den einhergehenden Wohlstand,alles Ziele, nach denen er sich als junger Student mit vielenGleichgesinnten gesehnt hatte. Aber im Gefolge dieses Kriegs suchte 1872/73 eine in Deutschland bisdamals beispiellose Cholera-Epidemie (9) auch Speyer heim. An dieserMagen- und Darmerkrankung mit Erbrechen, Durchfall und beträchtlicherKräfteabnahme erkrankten 418 Speyerer Bürger, von denen ihr fast dieHälfte, 202, zum Opfer fielen. Dr. David kämpfte wieder mit seinenKollegen und anderen freiwilligen Helfern (10) gegen diese Krankheitund konnte vielen helfen. Dafür wurde er vom bayerischen Staat mit demVerdienstkreuz ausgezeichnet. Dem Lockruf der Kommunalpolitik konnte auch er - wie schon sein VaterCarl und der ältere Bruder Theodor - nicht widerstehen. So engagierteer sich als Stadtrat von 1869 bis 1874, und vertrat dabei getreuseinem Freiheitsideal eine liberale Richtung. Doch manchmal wurde ervon der Ausübung seiner Pflichten als Stadtrat aus Krankheitsgründenabgehalten (11). Nicht zuletzt bewies Dr. David, dass er ein Herz für Kinder hatte. Umihnen eine sorgfältige Erziehung zu gewährleisten, gründete er am23.06.1874 auf Veranlassung einiger Väter den Fröbelverein (12).Innerhalb weniger Wochen gehörten dazu 209 männliche Mitglieder, die24 000 Mark zusammenbrachten und damit den Kindergartenbauermöglichten. Geleitet wurde er ganz nach den Erziehungsideen vonFriedrich Fröbel (13) und war überkonfessionell ausgerichtet (14).Jüdische, evangelische und katholische Kinder wurden gemeinsam auf dieSchule vorbereitet. Sie blickten stets ehrfürchtig auf das gütigeGesicht Adolfs, dieses hochgewachsenen Mannes mit den weißen Haaren,so die Zeitzeugin Elisabeth Schleicher-Landgraf (15). Wiederholtberichtete die „Speierer Zeitung“ über die beispielhafte Arbeit diesesprivaten Kindergartens. Dort hatte auch der Fröbelverein seinen Sitz,den Dr. David persönlich bis zu seinem Lebensende leitete. Am 03.11.1885 gab es im Hause David ein freudiges Ereignis: dieHochzeit seiner Tochter Franziska mit dem jüdischen Arzt, Dr. SiegmundReis (16). Der Schwiegersohn war beinahe zwanzig Jahre lang auch Dr.Davids Berufskollege. Für ihn und seine Frau rückten nunGroßelternfreuden in greifbare Nähe. Am 16.08.1891 beging der „Turnverein Speyer 1861 e.V.“. das 30-jährigeJubiläum seines Bestehens. Aus diesem Anlass schenkte Dr. David alseiner der Ehrenmitglieder dem Verein gemeinsam mit vier weiterenVereinskollegen drei große, eingerahmte Bilder: sie stellten diebronzene „GERMANIA“ in der Gestalt einer gekrönten Frau dar, sowie diebeiden Reliefs „Abschied“ und „Heimkehr“ der Krieger vomNiederwalddenkmal (17). Seinen 70. Geburtstag am 29.08.1900 feierte Dr. David in Baden-Baden,wo er sich aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit schon seit 14Tagen aufhielt. Die Presse (18) gratulierte ihm aus diesem Anlass,erinnerte die Leserin und den Leser an seine Verdienste in denKriegsjahren 1870-71, während der Cholera-Epidemie 1873 sowie an seinEngagement für die Fröbelvereinssache. Sie wünschte dem Jubilar, dassihm ein froher Lebensabend beschieden sei. Wieder gestärkt setzte Dr. David sein gemeinnütziges Werk fort. Erzählte mit dem Anteil von 1000 Mark zu den Teilhabern der „SpeiererMotorwagen-Gesellschaft m.b.H.“ - im Volksmund wurde m.b.H.umgedeutet: „manchmal bleiben se halte“. Diese Einrichtung hatte zuBeginn des 20. Jahrhunderts mit ihren fünf Omnibussen, die keinegummi-, sondern eisenbereifte Räder hatten, die Verkehrsverbindung inder Domstadt und mit den umliegenden Gemeinden übernommen.Motorleistung: 14 PS, Höchstgeschwindigkeit: 16 km. Als Sohn eines Fabrikanten sowie Bruder und Verwandter vonGeschäftsleuten mag auch Adolf David mit besonderer Aufmerksamkeit einüber tausend Seiten umfassendes Buch gelesen haben, das im Oktober1901 im Samuel Fischer-Verlag in Berlin erschienen war. Es hatte zumInhalt den Verfall einer Kaufmannsfamilie durch vier Generationenhindurch. Der Autor, selbst Abkömmling einer LübeckerKaufmannsfamilie, hieß Thomas Mann, der Titel lautete: „Buddenbrooks“.Es wurde ein Klassiker und eine lehrreiche Lektüre. Im Jahre 1904 ließ er eine außerordentliche Zuwendung dem„Verschönerungsverein“ - dem Vorläufer des jetzigen VerkehrsvereinsSpeyer (19) - zukommen, damit dieser seine wichtigen Aufgabendurchführen konnte. In seinen letzten Monaten plagte ihn ein schmerzhaftes Leiden, dem eram 24.05.1904, einen Monat vor dem 30jährigen Bestehen desFröbelvereins, in Heidelberg erlag. Die Todesanzeige in der „SpeiererZeitung“ füllte eine ganze Seite, die Trauer über seinen Verlust warallgemein. Im Heidelberger Krematorium wurde sein Leichnameingeäschert und die Urne auf Wunsch des Verstorbenen in aller Stilleauf dem Hauptweg des jüdischen Friedhofs in Speyer beigesetzt. (20).So konnte er im folgenden Monat als langjähriges Mitglied des„Turnvereins Speyer e.V.“ nicht mehr erleben, wie auf Betreiben diesesVereins das „erhabene Monument“ zu Ehren des Turnvaters und„Demagogen“, Friedrich Ludwig Jahn, in der Bahnhofstraße eingeweihtwurde (21). Zur Erinnerung an den Gründer und ersten Vorsitzenden desFröbelvereins mit dem dazugehörigen Kindergarten erhielt einkünstlerisch gestaltetes Bildnis von Dr. David im Fröbelhaus denEhrenplatz. Seine 66jährige Witwe Sophie blieb vorerst in derLudwigstraße 31 wohnen. Im April 1908 erfolgte in Neustadt a.d. Haardt, der Weinmetropole derPfalz, die Gründung des Vereins für das israelitische Altersheim fürdie Pfalz e. V. und Sophie David (22) wurde im gleichen Jahr dessenMitglied (23). Als aber ihre Tochter Franziska mit ihrem Mann, Dr.Siegmund Reis, 1913, nach Heidelberg übersiedelte, ging sie mit undverbrachte den letzten Rest ihres Lebens bei ihnen (24). ------------------------------------------- (1) Die Urfassung dieses Kurzporträts erschien in „SchicksaleSpeyerer Juden 1800 bis 1980“, Seite 67. Die vorliegende Fassung isterheblich erweitert worden. (2) Vor der Revolution von 1848/49 hatten sich die Juden politischnicht betätigt. Nach ihrem Scheitern zogen sie sich desillusioniertzurück oder wanderten wie zahlreiche Bürger nach USA aus, vor allemdie, welche sich für den sozialen und religiösen Wandel eingesetzthatten. (3) Jüdische Mediziner spielten seit dem Mittelalter als Vermittlerpersisch-arabischer Heilmethoden ebenso als Leibärzte von Königen,Päpsten und Fürsten eine herausragende Rolle. In Speyer wirkte 1348der Meister Lemlin von Thann /Elsass als Arzt: Vgl. „Geschichte derJuden in Speyer“, 1981, S. 27. Ihre geschätzte Tätigkeit auf einempolitisch neutralen Gebiet reichte bis in die Neuzeit hinein. EinViertel der Nobelpreisträger im Bereich der Medizin waren Juden. (4) Liesel Jester, die wohlgeachtete Wirtin des ehemaligenGasthauses „Zum Weidenberg“ am St.-Guido-Stiftsplatz, ist in Speyerbestens bekannt. Das Gasthaus war eine gutbürgerliche Wirtschaft mitBäcker- und Judenherberge und stets ausgebucht. Der Autor verdanktLiesl Jester mehrere Informationen über die Speyerer Juden derVorkriegsgemeinde. (5) Vgl. die Speierer Zeitung vom 27.05.1904. (6) Louis Levinger, ein geborener Schwabe jüdischen Glaubens, hatteim September 1864 gemeinsam mit dem Druckereibesitzer Ludwig Gilardoneden „Vorschuss-Verein“ gegründet, dem bald 121 Mitglieder angehörten.Aus diesem Verein ging im Jahre 1873 die „Speyerer Volksbank“ hervor.Sie setzt heute noch ihre erfolgreiche Arbeit fort. (7) Vgl. die Speierer Zeitung vom 17.10.1889. (8) Ebenda vom 26.07.1873. (9) Die Seuche konnte sich auch deshalb ungehindert ausbreiten, weilviele Einwohner, vor allem aus der Arbeiterklasse, in feuchten undschlecht beheizten Häusern wohnten. (10) Unter den Menschen, die den Cholerakranken zu Hilfe kamen, warein 25-jähriger Mann aus Billigheim: Konrad Busch. Als Domkaplanscheute er sich nicht, die Schwerkranken zu besuchen. Tag und Nachteilte er von einem Krankenzimmer zum anderen. Er selbst betteteCholerakranke um, wenn nebenan einer gestorben war…Mit 58 Jahren wurdeer 1905 Bischof von Speyer. Er leitete die Diözese nur kurze Zeit bisAnfang September 1910, als sein irdisches Leben erlosch. Vgl.Ferdinand Schlickel in „Der Pilger“ 6-36/2010. (11) Vgl. die Speierer Zeitung vom 21.11.1874. (12) Ebenda vom 04.11.1889. (13) Friedrich Fröbel, ein Schüler von Pestalozzi und selbst Lehrerund Erzieher, gründete 1840 im „Haus über dem Keller“ in BadBlankenburg / Thüringen eine „Anstalt zur Pflege des schaffendenTätigkeitstriebes“, den ersten deutschen Kindergarten. In einersolchen Anstalt sollten Kinder sich spielend die Welt erschließen.Durch ihren Vorbildcharakter beeinflusste sie trotz Rückschlägen sosehr die Kindererziehung der Nachwelt, dass der Name „Kindergarten“ inandere Sprachen überging. (14) Der Kindergarten stand den Kindern von Juden, Protestanten undKatholiken offen, was damals gar nicht üblich war. Heute spricht manallgemein von Ökumenischer Bewegung oder von der Ökumene, d.h. vomgemeinsamen Handeln unter christlichen Konfessionen undmonotheistischen Religionen. Im 19. Jahrhundert war dieser Begriffunbekannt, da die außerhalb der katholischen Kirche entstandeneÖkumenische Bewegung offiziell auf die erste Weltkirchenkonferenz inStockholm, 1925, zurückgeht. Doch die Juden praktizierten „Ökumene“bereits damals. So sind auf diesem Gebiet noch größere Anstrengungenwünschenswert. (15) Vgl. „Unsere jüdischen Mitbürger in Speyer“ S. 120-131 in„Geschichte der Juden in Speyer“, 1981. (16) Vgl. Kurzporträt Nr.10. (17) Vgl. die Speierer Zeitung vom 29.08.1900. Dieses deutscheNationaldenkmal liegt oberhalb des vielbesuchten Ortes Rüdesheim undwurde 1877-83 von Johannes Schilling erbaut. Es erinnert an dieNeugründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871. (18) Ebenda vom 18.08.1891. (19) Der „Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs in Speyer“ wurdeoffiziell am 21.07.1903 gegründet. Eine alte Tradition neu belebend,richtet er alljährlich, um nur die Haupttätigkeiten zu erwähnen, denSommertags-Zug sowie seit 1910 das Brezelfest aus, gibt von 1961 andie Vierteljahreshefte in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltungheraus und übernahm 1989 die Betreuung des Judenhofs. Im Sommer 2003feierte der Verkehrsverein sein hundertjähriges Bestehen und 2010 dasHundertste Brezelfest. Am 09.11.2010, einem geschichtsträchtigen Tag,wurde der Judenhof durch das neu eingerichtete „Museum SchPIRA“erweitert und die Attraktivität der Anlage dadurch erhöht. (20) Dr. Adolf David übte seinen Beruf in vorbildlicher Weise aus unddarf als die Verkörperung des idealen Arztes bezeichnet werden. Sowäre er ein geeigneter Kandidat, unter anderen - Vgl. Kurzporträt Nr.11 - wenn in einem Neubaugebiet eine Straße nach ihm benannt würde. (21) Vgl. Wolfgang Kauer im Heft des Seniorenbüros der Stadt Speyer„Aktiv dabei“, 2/2010. (22) Vgl. Näheres dazu im Kurzporträt Nr. 10. (23) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht des IsraelitischenKreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“., Speyer a. Rh. 1909. (24) Vgl. Porträt Nr. 10. Bildquelle Stadtarchiv Speyer Inv. 9667 Foto Barth, Foto heute: sim 16.09.2011 3. THEODOR DAVID Jakob Theodor David gehörte zu der Generation von Juden, die nach derdurch die Französische Revolution gewonnenen Gleichberechtigung ihreStellung in Staat und Gesellschaft auszubauen vermochten und auf einebessere Zukunft vertrauten. Am 22.09.1826 in Speyer geboren,entstammte er einer hochangesehenen Familie. Seine Mutter Franziska,geb. Gernsheim, war gebürtig aus Worms, sein Vater Carl, ursprünglichCharles, aus Homburg / Saar (1). Er hatte das Bibelwort: „Seidfruchtbar, vermehrt euch…“ (2) wohl wörtlich genommen, denn er bekamsieben Söhne und sechs Töchter. Carl hatte 1824 ein Ledergroßgeschäft in der Wormser-Straße51gegründet, in dem es überall nach Leder roch, und damit einemittelalterliche Speyerer Tradition neu belebt (3). Diese Straße, dievon der Maximilian-Straße in nördlicher Richtung ausgeht und zumStadtzentrum dazugehört, erfreute sich eines lebhaften Handelns. Zudemleitete Carl von 1855 bis 1872 die Israelitische Kultusgemeinde undübernahm als Stadtrat (4) von 1863 bis 1869 auch politischeVerantwortung (5). So genoss er in der Bürgerschaft hohes Ansehen. In der Atmosphäre des Engagements für die Bürger- und Kultusgemeinde,die im Hause Davids herrschte, reifte Theodor heran. Wesensart undLebensweg wurden stark von der Persönlichkeit des Vaters geprägt.Diesem Beispiel folgend, ergriff er den Kaufmannsberuf in derLederbranche und unterstützte bald seinen Vater im Geschäft - „CarlDavid Söhne“ Leder en gros“ - mit der Telefon-Nr.9. Das Stadthaus mitPolizeibüro und Feuermeldestelle hatte die Nummer 8! Am 20.07.1853 heiratete Theodor die 31 Jahre alte KaufmannstochterRosa, geb. Fulda, aus Worms, und sie bezogen die Wohnung in derBahnhofstraße 13 1/2a. Doch die Frau starb schon drei Jahre später am25. Juli 1856. So schloss der Witwer eine zweite Ehe am 07.07.1858 mitder 19-jährigen Emilia, geb. Feis, einer Weingutsbesitzertochter ausDeidesheim, der Stätte berühmter Weinversteigerungen (6). Wie so oftim Leben schreiten Freud‘ und Leid gleich Geschwistern daher. Nur vierTage nach der zweiten Eheschließung wurde seine Mutter Franziska, diesich nie geschont hatte, 56-jährig aus der Mitte der Großfamiliegerissen. Emilia brachte zwei Söhne zur Welt: Robert Samuel, am10.04.1859, und Oskar, am 10.06.1861, die beide in Speyer aufwuchsen. In seiner knappen Freizeit betätigte sich Theodor mit seinem um vierJahre jüngeren Bruder Adolf (7) sportlich als Mitglied des 1861gegründeten „Turnvereins Speyer e.V.“. Dieser vermittelte ihnen einGefühl von körperlicher und geistiger Freiheit und Gleichheit, womitsie die damals noch gültige Denkschablone widerlegten, Juden seien zu„körperlichen Leistungen untauglich“. Fünf Jahre nach Gründung des Deutschen Kaiserreiches, am 17.02.1876,starb Theodors Vater Carl und wurde mit allen Ehren auf demJudengärtel am St. Klara-Kloster-Weg beigesetzt. Nun übernahm Theodordie Firma „C. D. S“ und führte sie mit Sachkenntnis und geschäftlichemSpürsinn weiter. Zweifellos kam Theodor auch die gesellschaftlicheStellung seiner Geschwister zugute: Die älteste Schwester, Karoline,heiratete 1851 Louis Levinger, den späteren Mitbegründer der SpeyererVolksbank und der Baumwollspinnerei. Die jüngste Schwester, Natalie,ging 1869 die Ehe mit dem Schuhfabrikgründer Bernhard Roos (8) ein,einem der größten Arbeitgeber Speyers. Nach dem Sieg über Frankreich und der Krönung Wilhelm I. zum Kaisererhielten die Juden durch Reichsgesetz vom April 1871 nicht die volle- der christliche Staat musste erhalten bleiben - aber eineweitgehende, staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Immerhin beginnenjetzt die sogenannten „Goldenen Jahre“ der Speyerer Kultusgemeinde.Sie dauerten nicht lange und ließen nichts von der tragischenEntwicklung späterer Jahrzehnte ahnen. Im Jahre 1884 wurde auchTheodor in das Stadtparlament gewählt - bei den Gemeinderatswahlen1889 erhielt er 893 Stimmen (9) - und gehörte diesem Gremium bis zuseinem Lebensende 1898 an. Dass aus einer einzigen Familie dreiStadträte - Vater und die Söhne Theodor und Adolf - hervorgegangensind, ist sicher nichts Alltägliches und zeigt das hohesoziokulturelle Niveau, das Familie David erreicht hatte und ihreaußergewöhnlich gelungene Assimilation. Viele Jahre war Theodor Vorsitzender des Handelsgremiums sowieMitglied und Sekretär der pfälzischen Handels- und Gewerbekammer. Anden vielen Beratungen dieser Körperschaften nahm er stets lebhaftenund entscheidenden Anteil (10). Wie es in einer jüdischen Gemeindenoch immer Sitte ist, stiftete Theodor mit seiner Frau Emilie im Jahre1883 einen Toraschrein-Vorhang aus blauem Samt mit vergoldeterStickerei - 1,95 mal 1,65 Meter - für den Toraschrein der 1837eingeweihten Synagoge in der Hellergasse. Es handelte sich um einwertvolles Schmuckstück mit der Darstellung einer Krone, flankiert vonzwei aufsteigenden Löwen, als Symbol für die Tora, die KöniginIsraels. Dieser Vorhang überstand den Synagogen-Brand beimNovemberpogrom von 1938 durch die Geistesgegenwart einigerGemeindemitglieder, und gehört jetzt als Dauerleihgabe demHistorischen Museum der Pfalz. Theodor erlebte am 25.06.1893 die Hochzeit seines älteren SohnesRobert - inzwischen ein angesehener Kaufmann mit Wohnsitz in derBahnhofstraße 13 1/2a - mit der um elf Jahre jüngeren Elisabeth Luise,geb. Hirsch, der Tochter eines Holzhandlung-Besitzers aus Edenkoben(11). Am 15.08. des folgenden Jahres erblickte deren Tochter MargareteSophie, gen. Gred, in Speyer das Licht der Welt, und Theodor wurdeGroßvater. Diese weltoffene Enkelin studierte in Frankfurt am Main Recht,Wirtschaft und Gesellschaftslehre, vermählte sich dort 1917 mit ihremProfessor, dem Juristen Berthold Freudenthal, (12) und emigrierte 1934nach Palästina / Israel. In ihrem Buch: „Ich habe mein Land gefunden“berichtete sie 1977 u.a. über ihre Großeltern väterlicherseits. Diesesprachen deutsch und nicht jiddisch, führten keinen koscherenHaushalt, das heißt, sie trennten nicht Fleischspeisen vonMilchspeisen, und feierten statt Chanukka (13) Weihnachten, das heißtmit Baum und Geschenken zusammen mit dem Personal der Firma. Margareteließ dem ersten Buch ein zweites, 1982, folgen: „Die Lilie desScharon“, in dem sie berichtete, was ihr in dem Land, das sie gesuchthatte, begegnet ist (14). Nach kurzer Krankheit verstarb Theodor am 21.05.1898 - wie Moses aneinem Samstag - im Alter von 72 Jahren (15). Er wurde auf dem Hauptwegdes neuen jüdischen Friedhofs an der Wormser Landstraße bestattet.Eine große Menschenmenge ließ es sich nicht nehmen, ihm das letzteGeleit zu geben, von prominenten Regierungs- und Stadtvertretern überden Bezirksrabbiner, Dr. Adolph Salvendi (16), den Vorsteher derKultusgemeinde, Sigmund Herz (17), und vielen Glaubensgenossen bis hinzu zahlreichen Speyerer Bürgern. In der Grabrede pries der Rabbinereindrucksvoll den Verstorbenen als „einen Mann, der mit umfassenden Geistesgaben ausgestattet, allezeit die Pfade der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe gewandelt ist, der in seinen geschäftlichen und verwandtschaftlichen Pflichten nicht aufgegangen, sondern getragen von dem Vertrauen seiner Mitbürger auch für alle Angelegenheiten des öffentlichen Lebens jederzeit mit warmen Herzen eingetreten war“(18). Der Sohn Robert übernahm die Leitung der Firma. Sein Bruder Oskar warebenfalls Kaufmann geworden und wohnte in der Bahnhofstrasse 16 b. Am25.08.1902 starb Emilia, die Mutter der beiden Kaufleute, im 64.Lebensjahr und wurde bei ihrem Mann bestattet. Zum Andenken an ihreEltern errichten die Söhne Robert und Oskar 1903 bei derKultusgemeinde eine überaus reiche Stiftung. Am 27.06.1904 verlegte Robert das Geschäft nach Frankfurt am Main, daser von seinen regelmäßigen Messebesuchen her gut kannte und wo seineverheiratete Tochter Margarete lebte. Das Speyerer Geschäft blieb alsZweigniederlassung erhalten. Robert starb in der Mainstadt nachschwerer Krankheit am 30.03.1932, zehn Monate vor der Machtübernahmedurch die Nationalsozialisten, die er persönlich, wie viele nüchterndenkende Menschen, in tragischer Weise für ausgeschlossen gehaltenhatte. (1) Das Mobiliar des Ehepaars Franziska und Carl zeigte dennapoleonischen Schwan aus Dank für die vom Kaiser den Juden gewährteEmanzipation. (2) Vgl. Genesis, Kapitel 9, Vers 2. (3) Das bezeugen die Straßennamen Ledergässel und Lauergasse in derSpeyerer Altstadt. (4) Der Stadtrat wurde damals nicht nach Parteilisten, sonderndurch Persönlichkeitswahl gewählt. Das änderte sich erst am 23.06.1919mit der Wahl des Oberbürgermeisters Karl Leiling. (5) Die Namen Carl und Theodor stammen von den Herzögen vonPfalz-Zweibrücken, für die ein Urahne der Familie David Hoflieferantgewesen sein soll. Ursprünglich leitet sich der Name Theodor von dergriechischen Sprache ab und heißt „Gottesgeschenk“. (6) Um 1853/54 wohnten in Deidesheim, Landkreis Bad Dürkheim, nochetwa 50 Juden, die um die gleiche Zeit ihre Synagoge im neuromanischenStil erbauten. Danach sank ihre Zahl kontinuierlich, so dass ihreletzten Mitglieder im Dezember 1936 das Gebäude an einen Privatmannverkauften. Dadurch entging es der Zerstörung am 09.11.1938. Seit Mai2004 steht die gründlich renovierte Synagoge der Öffentlichkeit fürkulturelle Veranstaltungen zur Verfügung. (7) Vgl. Kurzporträt Nr. 4 (8) Vgl. Kurzporträt Nr. 8. (9) Vgl. die Speierer Zeitung vom 30.11.1889. (10) Ebenda vom 21.05.1898. (11) Die Synagoge in Edenkoben wurde 1827 als Nachfolgebau von 1781eingeweiht. Während der Reichspogromnacht am 09.11.1938 wurde siegestürmt, verwüstet und abgerissen. Die Inneneinrichtung wurde aufdem Marktplatz öffentlich verbrannt. Keine Gedenktafel erinnert anihre Zerstörung. Vgl. „Die Synagogen in der Pfalz von 1800 bis heute“von Otmar Weber, S. 63. (12) Berthold Freundenthal wurde 1872 in Breslau geboren, wurde Juristund Professor für Strafrecht an der Universität Frankfurt am Main.Aufgrund einer von ihm verfassten Denkschrift wurde 1908 das ersteJugendgericht in Deutschland geschaffen. Er gab auch den Anstoß zurGründung des ersten Jugendgefängnisses in Deutschland, und zwar inWittlich in der Eifel. Es war lange Zeit die einzige Anstalt dieserArt. Freudenthal starb am 13.02.1929 in Frankfurt am Main. (13) Dieses achttägige jüdische Fest wird im November / Dezembergefeiert und erinnert an die Neuweihe des Tempels in Jerusalem imJahre 164 v. Chr. Die Makkabäer hatten das Heiligtum in schwerenKämpfen aus der Gefahr der hellenistischen Überfremdung durch dieSyrer gerettet. Im Gedenken an dieses Ereignis wird täglich ein Lichtmehr am achtarmigen Chanukka-Leuchter entzündet. Er wird an Fensternaufgestellt als Bekenntnis zum Judentum. (14) Margarete Sallis-Freudenthal starb im Jahre 1985 in Tel Aviv. DenHinweis auf ihre autobiographische Schrift: „Die Lilie des Scharon“verdankt der Verfasser Wolfgang Kolb aus Speyer. Die Rheinpfalz,Ausgabe Speyer, brachte am 11.09.2009 einen Beitrag vom Autor überdiese bemerkenswerte Frau heraus unter dem Titel: „Vom Kaiserreich zumStaat Israel - Der ungewöhnliche Weg der Jüdin Margarete Sallis-Freudenthal - in Speyer geboren, über Frankfurt und Freiburg in TelAviv gelandet.“ (15) Seinen Sterbefall meldete der Schuhfabrikant Bernhard Roos, wasauf eine enge Zusammenarbeit, ja Freundschaft, der beidenGeschäftsleute schließen lässt. Vgl. Kurzporträt Nr.8. (16) Vgl. die Speierer Zeitung vom 23.05.1898. Dr. Adolf Salvendi,geb. 1837, gest. 1913, war ungarischer Abstammung, aktiver Zionist undein begabter Redner. Er gab Flugschriften mit Nachrichten überPalästina / Israel heraus und sammelte auch Geld für diesen Zweck. AlsRabbiner vertrat er eine streng orthodoxe Linie, die in denassimilierten Gemeinden seines Bezirkes vielfach auf Widerspruchstieß. Nach 42-jähriger Amtstätigkeit trat er Ende 1909 in denRuhestand, den er bis zu seinem Lebensende in Karlsruhe verbrachte.Dort wurde er auch bestattet. Vgl. StA Speyer Best. H 3 Nr. 8159 Bl.21-23. (17) Der 1828 in Kuppenheim geborene Sigmund Herz, ein würdiger Bürgermit Zwicker und Zylinder, war der Nachfolger von Carl David alsVorsteher der Kultusgemeinde. Er leitete sie 41 Jahre (!) lang wiekeiner seiner Vorgänger und keiner seiner Nachfolger. Im 91.Lebensjahr verstarb der Ururgroßvater am 09.07.1918 in Speyer. DieTodesanzeige der Kultusgemeinde schloss mit den Worten: „Sein Namewird mit der Geschichte unserer Gemeinde unauslöschlich verbundenbleiben“. Vgl. die Speierer Zeitung vom 10.07.1918. (18) Ebenda vom 23.05.1898. Bildquelle Stadtarchiv Speyer Inv. 6129, Foto heute: sim 12.09.2011 2. HENRIETTE MAYER Über diese Bürgerin jüdischen Glaubens sind zwar wenige Einzelheitenbekannt, doch sie wurde durch ihr für die damalige Zeit langes Lebeneine Zeitzeugin des 19. Jahrhunderts und damit ein lebendigesGeschichtsbuch. Sie erblickte am 08.11.1808 in Freisbach (1) das Lichtder Welt: damals eine kaum 500 Einwohner zählende Landgemeinde, heuteTeil der Verbandsgemeinde Lingenfeld. Es war das Jahr, in demNapoleon, nachdem er die Herrschaft über Europa errungen hatte,anordnete, dass Juden allgemein gebräuchliche Namen annehmen sollten.Nachdrücklich trat er aus politischem Kalkül auch für denMilitärdienst der Juden ein. Henriette blieb das einzige Kind vonAbraham Mayer (2) und Veronika, geb. Hertz, beide geborene Bürger vonFreisbach. Man nannte das Mädchen im Familienkreis kurz „Jette“. Henriette war 24 Jahre alt, als auf dem Hambacher Schloss am Morgendes 27.05.1832 selbstbewusste Bürger, angeblich „Demagogen“, gegen dieTyrannenmacht der Fürsten protestierten. Es war die erstedemokratische Massenversammlung in der deutschen Geschichte. Diedeutsche schwarz-rot-goldene Fahne mit der Inschrift „DeutschlandsWiedergeburt“, die polnische weiß-rote Fahne und die schwarze Fahnemit dem Schriftzug „Die Weinbauren müssen trauren“ flatterten imWinde. Die Initiatoren des Festzuges, Philipp Siebenpfeiffer undJohann Wirth, hielten ihre Reden, neben anderen Patrioten, und sietaten es sicherlich auch in Henriettes Sinne, da jede jüdischeGemeinde ein selbständiges, freies Gemeinwesen ist. Von Beruf wurde Henriette Mehlhändlerin, eine Tätigkeit, die denMenschen auf dem Land ein Auskommen ermöglichte. Zwei Jahre später, imSeptember 1834, heiratete sie - im durch den Tabakanbau (3) bekanntgewordenen Harthausen - den gleichaltrigen Löb Leonhard Mayer ausGommersheim (4), auch Mehlhändler von Beruf, nach dem Spruch: „Gleichund Gleich gesellt sich gern“. Damals begann auch in Deutschland mitzeitlicher Verzögerung, aber mit stärkerem Druck nach dem VorbildGroßbritanniens die Industrielle Revolution. In der Zeit vom 1835 bis 1848 brachte Henriette in Harthausen siebenKinder zur Welt, von denen aber zwei im Kindesalter verstarben. Derdamaligen Kindersterblichkeit entgingen Sara, geboren 1837, Moritz1840, Rosalia 1841, Heinrich 1843 und Friederika 1848. Als diesejüngste Tochter die irdische Bühne betrat, war gerade die deutscheRevolution ausgebrochen, die viele Hoffnungen, auch unter jüdischenBürgern, weckte, aber bald darauf mit der Stärkung der großen Staaten- vor allem Preußens - endete. Daraufhin sahen sich viele Patriotengezwungen, in die Neue Welt zu emigrieren. Die älteste Tochter Saravermählte sich am 16.03.1858 in Bad Bergzabern (5) mit demTabakhändler Gabriel Mayer. Am 23.11.1860 übersiedelte Familie Leonhard Mayer nach Speyer - einerStadt von über 11 000 Einwohnern - die fünf Tage später zum ersten Malmit Gaslicht beleuchtet wurde, damals ein Fortschritt gegenüber denPetroleumlampen. Nur drei Jahre später, am 30.08.1863, verstarbHenriettes Mann Leonhard mit 55 Jahren und wurde auf dem Judengärtelbeigesetzt. An seiner Bestattung nahmen zahlreiche Bürger teil, wieaus der Danksagungsanzeige hervorgeht. Nun übernahm Henriette dieFührung des Geschäfts in der Wormser-Straße 6 und herrschte alsHausvorstand unangefochten. Drei Jahre nach dem Verlust ihres Mannes, 1866, erlebte Henriette denKrieg Preußens gegen Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland,der zur Gründung des Norddeutschen Bundes unter Vorsitz despreußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismark (1815-1898) führte.Der Eindruck des preußischen Sieges bei Königgrätz in Tschechien warnicht nur in Südwestdeutschland gewaltig. Auch im Privatleben der Familie Mayer gab es Veränderungen. Der SohnMoritz heiratete am 12.09.1867 Emma Kuhn, die Tochter des SpeyererHerrenkleiderhändlers Esajas(6). Sein Bruder Heinrich zog im April1870 nach Baden. Beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges am19. Juli 1870 war Henriette 62 Jahre alt und erlebte diesekriegerische Auseinandersetzung mehr aus der Nähe. Zwölf Tage späterbesuchte Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, Sohn Wilhelms I.,als Oberbefehlshaber der III. Armee, die an der Schlacht bei Sedanmitwirkte, den Gottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche in Speyer.Zum Glück blieb die Domstadt von den Kriegswirren und -Nötenweitgehend verschont. Die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Kaiser am18.01.1871 in Versailles entsprach dem Kalkül bismarckscher Politik.Der neue Kaiser war verantwortlich für die Niederschlagung der 1848erRevolution und ultrakonservativ. Seit der Errichtung des deutschenNationalstaats unter preußischer Führung und unter Zustimmung derdeutschen Fürsten war die deutsche Frage gelöst. Eine Folge derfranzösischen Kriegsentschädigung in Höhe von fünf Milliarden Francsund der Reichsgründung war nicht die Verelendung der Massen nach KarlMarx, sondern ein ungeheurer Wirtschaftsboom - die sog.„Gründerjahre“- der eine ungesunde Spekulation hervorrief. DieseEntwicklung hatte der Schriftsteller Wilhelm Raabe (7) mit tieferSorge vorausgeahnt und davor gewarnt. Im November 1872 verzeichnete die Familienchronik die Heirat derTochter Friederike mit dem um vier Jahre älteren Kaufmann Isaak Simonaus Kaiserslautern. Im darauffolgenden Jahr überlebte Henriette dieCholera, eine als Folge des Krieges in Deutschland bis dahinbeispiellose Epidemie, an der in Speyer von den damals 13 000Einwohnern 418 Personen erkrankten, von denen fast die Hälfte, nämlich202, daran starben (8). Eine große Feier fand am 08.11.1888 - im Dreikaiserjahr - statt, alsHenriette im Kreise ihrer Kinder, Enkel und Urenkel in geistigerFrische und in ungebrochener körperlicher Rüstigkeit ihren 80.Geburtstag beging. Anlässlich dieses runden Geburtstags wurdehöchstwahrscheinlich ein Gruppenfoto mit Henriette in der Mittegemacht, das nicht mehr erhalten ist. Henriette blieb ihren kleinenund großen Kindern nie eine Antwort schuldig, wenn sie sie fragten,wie es früher einmal war. Dann fing sie an zu erzählen, als wären ihreKonstitution und ihr Gedächtnis unverwüstlich. Zum Vergleich dazu:Erst vier Monate vor ihrem Geburtstag war der bereits erwähnteFriedrich Wilhelm, jetzt Kaiser und König von Preußen - er hattegegenüber seinen jüdischen Untertanen großen Respekt gezeigt - am15.06.1888 im Alter von 57 Jahren an einer Kehlkopfkrebs-Erkrankungverstorben (9). Er hatte nur 99 Tage geherrscht und somit keine Chancegehabt, sich zu beweisen. Sein Sohn bestieg 29-jährig den Thron alsKaiser Wilhelm II., 1888-1918. Er hielt die Juden für die „MörderChristi“ (10) wie sein Hofprediger Adolf Stoecker. Als dieserPolitiker 1883 Speyer besuchte, lachte er darüber, dass die Synagogean der „Stöckergasse“ - der heutigen Hellergasse - liege (11). Zehn Jahre später feierte Henriette ihren 90. Geburtstag noch immerbei guter Gesundheit und im Mittelpunkt der Festgemeinde. Es war dasJahr, in dem die Brauerei in der Bahnhofstraße ihren Mitarbeitern einWeihnachtsgeld von 15,-- bis 25,-- Mark zahlte und dazu jedem Arbeiterein Fässchen Weihnachtsbier spendierte (12). Bevor Henriettes Herz am 28.03.1907 aufhörte zu schlagen, war sie nochZeitzeugin der Niederwerfung des Aufstands der Hereros im August 1904beim Waterberg / Deutsch-Südwest-Afrika durch General L. von Trotha.Die Aufständischen kamen größtenteils mit ihrem Vieh in der Wüste um.Es wurde ihr ebenfalls vergönnt, zu erfahren, dass der Arzt RobertKoch, der 1883 den Cholera-Erreger entdeckt hatte, im Jahre 1905 denverdienten Nobelpreis für Medizin erhalten hatte. Diese älteste Bürgerin Speyers verbrachte 47 Jahre in der Domstadt,die mittlerweile 20 000 Seelen zählte. Sie hatte insgesamt Aufstiegund Untergang Napoleons erlebt, die bürgerlich bestimmteBiedermeierzeit, die Unruhen der blutig niedergeschlagenen Revolutionvon 1848 und die Kriege Preußens, die zur Reichsgründung führten. DerWirtschaftsaufschwung der 70er und 80er Jahre hatte zwar bescheidenenWohlstand gebracht, aber das Kaiserreich, das die Emanzipation derJuden (13) als Erbe aus der napoleonischen Zeit übernommen hatte, waralles andere als ein demokratischer Staat. Reichstag und Parteienwaren weit davon entfernt, tatsächlichen Einfluss auf die Politik zuhaben. Die Presse (14) widmete Henriette einen Nachruf, in dem sie dieVerstorbene als „würdige Matrone und verhältnismäßig noch rüstigeGreisin“ beschrieb, die „wirklich viel erlebt hatte“. Die Todesanzeigeder „Speierer Zeitung“ (15), in der nicht ihr Name, sondern der ihresMannes erscheint, füllte eine halbe Seite, was damals, zumal für eineFrau aus einfachen Verhältnissen, sehr ungewöhnlich war. IhreGrabstätte auf dem jüdischen Friedhof an der Wormser-Landstraße fälltdurch eine große, wie mit einem Vorhang drapierte Urne (16) auf,oberhalb der ovalen Inschrift-Tafel. (1) Die wenigen Freisbacher Juden verfügten 1831 nur über einebescheidene Betstube in einem Privathaus. Vgl. „Die Synagogen in derPfalz von 1800 bis heute“ von Otmar Weber, S. 72. (2) Der bei jüdischen Bürgern sehr verbreitete Nachname Mayer erklärtsich damit, dass er einen ähnlichen Klang aufweist wie der hebräischeName Meir, der „Leuchtender“ heißt. Deshalb wurde er gerne von Judenübernommen, als sie 1808 allgemein verständliche Namen übernehmenmussten. Auf dem jüdischen Friedhof in Speyer, Wormser Landstraße,wurden von 321 Personen 42 namens Mayer bestattet. Der Name Mayerreimt sich gut mit Speyer. (3) Vgl. „Speyer von den Saliern bis heute, 1000 JahreStadtgeschichte“ von Ferdinand Schlickel, S. 92. Seit 400 Jahren wirdin Deutschland Tabak angebaut. In der Pfalz geht dessen Anbau auf dieKontinentalsperre zurück, die Kaiser Napoleon Ende 1806 anordnete, umdas europäische Festland wirtschaftlich gegen England abzuschließen.Da der Erlös aus der Ernte wetter- und marktbedingt schwankte, hattedie Pflanze den Spitznamen „Schikanenkraut“. (4) Ein Fachwerkbau aus dem 18. Jahrhundert in der Hauptstraße 58diente den dortigen Juden als Synagoge. Die Decke war alsSternenhimmel ausgemalt in Anspielung auf das Wort Gottes an Abraham:„Sieh doch zum Himmel hinauf und zähle die Sterne, wenn du kannst“ ausGenesis Kapitel 15, Vers 5. 1932 senkte sich die Frauenempore, und diewenigen Gommersheimer Juden mussten ab 1933 die Synagoge in Geinsheimbesuchen. So blieb ihre alte Synagoge in der Reichspogromnacht 1938verschont. Im Jahre 1966 wurde sie abgerissen und die Mikwe, dasRitualbad, zugeschüttet. (5) Die Bergzaberner Gemeinde richtete in einem 1848 erworbenenAnwesen ihre Synagoge ein, die gegenüber der protestantischenMarktkirche stand. Am Vormittag des 10.09.1938 wurde sie von einemSA-Sturm verwüstet und abgerissen. Vgl. „Die Synagogen in der Pfalzvon 1800 bis heute“ vom Otmar Weber, S. 43-44. (6) Vgl. Kurzporträt Nr. 1. (7) In seinem am meisten gelesenen Werk: „Die Chronik derSperlingsgasse“, einem Bilderbuch aus dem Milieu Alt-Berlins, aus demJahre 1857, stellte der Verfasser die Juden in ihrer Liebe zu Israeldem damals noch nicht geeinigten deutschen Volke als Muster hin. Auchin anderen Romanen stellte Raabe die Juden in einem günstigen Lichtdar. (8) Vgl. den Speierer Anzeiger vom 26.09.1873. (9) Vgl. „Speyer von den Saliern bis heute…“, S. 106. EinMessingschild in der Dreifaltigkeitskirche mit den Worten „FriedrichWilhelm, Kronprinz von Preußen, 31.07.1870“bezeichnet das Gestühl, woer damals saß. Er war es, der den Antisemitismus, diese Verhöhnung vonHumanität und Gerechtigkeit, „die Schmach des Jahrhunderts“ genannthatte. Der Antisemitismus greift auf altertümliche Vorurteile gegenJuden zurück, die aus religiösen, wirtschaftlichen und politischenMotivationen herrühren. Der rassistische Antisemitismus erreichteseinen furchtbaren Höhepunkt in der Ideologie des Nationalsozialismusvon 1933 bis 1945 mit der planmäßigen Vernichtung von ca. sechsMillionen Juden. Jedoch bedeutete der Sieg über Nazi-Deutschland nichtzugleich die Überwindung des Antisemitismus, wie die Leugnung desHolocaust, Schändungen von Synagogen und Friedhöfen durchrechtsextremistische Kreise belegen. Der aus dem Antijudaismus derchristlichen Kirchen hervorgegangene Antisemitismus - angefangen beitendenziösen Aussagen im Neuen Testament über die Hasstiraden der„Kirchenväter“ , der altchristlichen Kirchenschriftsteller, gegen dieJuden bis hin zu den Beschlüssen vieler Konzilien - liegt weiterhinwie ein Fluch über Europa und darüber hinaus. (10) In seinem Exil in den Niederlanden in Haus Doorn beschäftigtesich der abgedankte Kaiser Wilhelm II. außer mit Holzhacken im Gartenmit der Lektüre der „Protokolle der Weisen von Zion“. Sie ist einegegen Ende des 19. Jahrhunderts in Paris im Auftrag der zaristischenPolizei erwiesenermaßen gefälschte Hetzschrift über angebliche Plänezur Errichtung einer „Jüdischen Weltherrschaft“. (11) Vgl. „Jüdisches Leben in der Pfalz“ von Bernhard Kukatzki, SuttonVerlag, 2006, S. 25. (12) Ebenda S. 104. (13) Anders als im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsbereitet heute der Begriff der jüdischen Assimilation im Sinne einerbürgerlichen Gleichstellung in der deutschen Gesellschaft, in derMillionen Menschen mit Migrationshintergrund leben, keine Problememehr. Schwierigkeiten machen Menschen, die die Integrationgrundsätzlich ablehnen und eine Parallelgesellschaft aufbauen wollen,die ein Fremdkörper ist und bleibt. (14) Vgl. die Speierer Zeitung vom 30.03.1907. (15) Ebenda vom 28.03.1907. (16) Das Motiv der Urne als Gefäß zur Aufnahme des Leichenbrandes nachder Kremation des Toten stammt aus der späten Bronzezeit Europas. DerVorhang erinnert an eine Theatervorstellung. Wenn dieser langsamniederrollt oder zugezogen wird, ist die Vorstellung, d.h. dasirdische Leben, zu Ende. Foto heute: sim 02.09.2011 1. ESAJASKUHN Als der Korse Napoleon Bonaparte sich anschickte, das GesichtFrankreichs und Europas zu verändern, wurde EsajasKuhn, Alexandergenannt, am 01.01.1800 in Niederhochstadt, heute Hochstadt (1) undTeil der Verbandsgemeinde Offenbach a. d. Queich, geboren. SeineEltern waren Alexander und Esther, geb. Isaac. Esajas‘ Geburtstag zuBeginn eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahres schien aufetwas Bedeutendes hinzuweisen. Früh erlernte er den Schneiderberuf,der von der Altsteinzeit bis zur Moderne zum ältesten Gewerbe derMenschheit gehört. Dieser Beschäftigung wurde auch in der Judenheitvon alters her nachgegangen, da religiöse Juden keine Kleider tragendurften, deren Gewebe aus Wolle und Flachs bestand (2). Im Zuge der allgemeinen Abwanderung von arbeitsuchenden Menschen vomLand in die Städte kam Esajasnach Speyer, wo seit Beginn des 19.Jahrhunderts eine neue jüdische Gemeinde entstanden war, die an diemittelalterliche jüdische Stadttradition anknüpfen wollte. Am24.11.1829 vermählte er sich in der Domstadt mit der um achteinhalbJahre jüngeren Speyerin Henriette, geb. Dreyfus, einerKleiderhändlerin, die ihn beruflich unterstützte. Im Verlauf vonachtzehn Jahren bekam die Familie vier Jungen und fünf Mädchen:Alexander (3) im Jahre 1830, Charlotte, 1832, Josef, 1833, Karl, 1838,Franziska, 1840, Samuel, 1842, der aber im Alter von nur vier Monatenstarb, Rosalia, 1844, Emma, 1846, und Mathilde Bertha, 1848. Am Freitag, den 24.11.1837, nachmittags um 14 Uhr war Esajasmit seinerFamilie Zeuge eines außergewöhnlichen, ja man kann ohne Übertreibungsagen historischen Ereignisses, das sich kein Jude entgehen lassenwollte: der Einweihung der nach Plänen von August von Voit immaurischen Baustil errichteten Synagoge (4) in der Hellergasse. Eswaren 148 Jahre seit der Zerstörung der mittelalterlichen Synagogevergangen und 733 seit deren Erbauung. Das Programm der Feier umfasste18 Punkte mit Gesängen und Gebeten, und der Bezirksrabbiner Aron Merz(5) hielt die Festpredigt. Es wurde auch gebetet für Seine Majestätden König, Ihre Majestät die Königin, das Königliche Haus und dieKönigliche Regierung. Die Feier lieferte der Stadt und darüberhinausGesprächsstoff noch lange danach. Maximilianstr.66 früher Mittlerweile hatte sich Esajasvom Schneidermeister zum Kleiderhändlergemausert mit Wohnung auf der Maximilian-Straße 66. Er freute sich,als seine älteste Tochter Charlotte im Juni 1857 die Hochzeit mit demWitwer Philipp Altschüler aus Grünstadt feierte. Er erlebte auch, am05.05.1862, die Eheschließung seines ältesten Sohnes Alexander, derZolleinnehmer geworden war, mit Julia Cassel aus Offenbach am Main.Dabei verbarg er nicht seine Genugtuung darüber, dass sich die beidenSöhne, Karl und Josef, stark in der Textilbranche engagierten undanscheinend mit einem größeren Plan liebäugelten. Tatsächlich gelang es den beiden Söhnen durch gediegeneGeschäftskenntnisse, Fleiß und Energie die von ihrem Vater ausbescheidenen Anfängen gelegte Grundlage so auszubauen, dass sie 1860mit der Herstellung von Herrenkleidern in allen Stoffen „en gros et endetail“ beginnen konnten. Nach dem ältesten Adressbuch der StadtSpeyer für das Jahr 1868/69 war der Sitz der Firma in der Korngasse21, in fast versteckter Lage. Im Alter von 65 Jahren starb das Familienoberhaupt Esajasam 30.09.1865im Kreise seiner Lieben und wurde auf dem kleinen, idyllisch gelegenenFriedhof am St.-Klara-Klosterweg bestattet, den die Speyerer„Judengärtel“ (6) und die Juden den „Guten Ort“ und, anscheinendparadoxerweise, auch „Bet ha-Chaim“, das heißt, „Haus des Lebens“nennen. Jetzt fühlte sich die zweite Generation noch mehr aufeinanderangewiesen und zu neuen Taten herausgefordert. Die zweitjüngste Tochter Emma schloss die Ehe im September 1867 mitdem Kaufmann Moritz Mayer, dem ältesten Sohn der Henriette Mayer (7).Im September des folgenden Jahres heiratete Joseph, der einzige Sohnder Familie mit dem Namen des biblischen Patriarchen (8), EmiliaAmanda, geb. Seligmann, aus Homburg / Saar. Im Juli des Jahres 1869vermählte sich Franziska mit dem Speyerer Kleiderfabrikanten JakobGudenberg aus Höxter an der Weser. Karl schloss die Ehe mit Eleonore,geb. Dick, aus Augsburg im Juni des Jahres 1870. Im Mai 1872 heirateteRosalia in Speyer den Kaufmann Josef Marx aus Grünstadt und als letzteder Geschwister schloss Mathilde Bertha, 1874, die Ehe mit demgleichaltrigen Galanteriewarenhändler Moritz Horn aus Düsseldorf. DieFrischvermählten erfreuten sich aber eines viel zu kurzen Ehelebens:Mathilde Bertha starb in der Geburtsstadt des Dichters Heinrich Heinekaum zwölf Monate später, 27-jährig. Immer deutlicher entwickelte sich Karl von seinem Sitz, Korngasse20-21, Tel. 99, mittlerweile ein allgemein hochgeachteter Bürger, zumMotor des Unternehmens. Dahinter steckte die einleuchtende Devise:„Kleider machen Leute“ und „Herren brauchen Kleider“. Für denWarenabsatz sorgten Bekleidungsgeschäfte - etliche wurden von Bürgernjüdischen Glaubens wie Ferdinand Altschüler (9), und Hermann Hirsch(10) auf der Maximilian-Straße betrieben - so dass sich Karl auch demweiteren Ausbau der Firma widmen konnte. Der Ruf ihrer Erzeugnisse warüber die Grenzen des 1871 neu gegründeten Deutschen Reichs hinausbekannt geworden, wie Bestellungen, die sogar aus dem fernen,zaristischen Russland kamen, belegen. Das technische Personalarbeitete mit großem Einsatz und zeigte ein loyales Verhalten, weilzwischen Firmenleitung und Angestellten jederzeit ein gutesEinvernehmen herrschte. Nach dem Adressbuch der Stadt Speyer von 1894 hatte sein Bruder Josefinzwischen eine eigene Herrenkleiderfabrik errichtet, in derWormser-Straße 24, am jetzigen Willy-Brand-Platz, Tel. 259, in besterLage, wo er Stoffe für Herrengarderobe verkaufte und wo er auchwohnte. Außerdem wirkte er als Hauptagent der FrankfurterVersicherungsgesellschaft „Providentia“ (lat: Vorsehung) für die Pfalzund Generalagent für Reisende und Auswanderer nach Amerika. Überdiesvertrieb er amerikanische Nähmaschinen. Außerhalb der Firma setzte er sich ehrenamtlich ein. So machte er imOktober 1874 dem jungen Fröbelverein als Geschenk die Obligation imNennwert von 30 Mark, was die Presse (11) zur Anmerkung veranlasste,diese großzügige finanzielle Unterstützung möge doch viele Nachahmerfinden, und die Ideen von Friedrich Fröbel (12) in der Stadt nochbekannter machen. Josef war auch Aufsichtsratsmitglied der SpeyererGewerbebank in der Ludwigstraße. Ein Schicksalsschlag traf ihn am26.03.1878. Er musste seinen Sohn Isaias Alfred beerdigen, der imzarten Alter von erst neun Jahren gestorben war und auf dem„Judengärtel“ beigesetzt wurde. Zum Trost und Garant für eine bessereZukunft blieb ihm der sechsjährige Sohn Eugen Ludwig. Nachdem EsajasEhefrau Henriette neun Kinder geboren, erzogen und ihreweitere Entwicklung liebevoll begleitet hatte, schloss sie am09.05.1882, fast an ihrem 73. Geburtstag, die Augen für immer. Siewurde wie ihr Mann auf dem „Judengärtel“ bestattet. Ihre TochterRosalia starb am 16.05.1898 im Alter von 54 Jahren und wurde auf demneuen jüdischen Friedhof an der Wormser Landstraße beigesetzt, der einTeil der städtischen Grabanlage ist. Der Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Kaiserreich, das jetzt alsWelt- und Seemacht galt, mit Feuerwerk, Sekt und Tanz begrüßt. VieleMenschen wünschten, dass der unaufhaltsame technische Fortschritt undder Wohlstand allen Bevölkerungsgruppen unterschiedslos zugute kommenmögen. Aber wie immer stand auch die bange Frage im Raum: Können allunsere Wünsche Wirklichkeit werden? Zunächst schienen sie tatsächlichin Erfüllung zu gehen. Laut Gewerbeanmelderegister vom 04.04.1905 ging dieHerrenkleiderfabrik von Josef Kuhn auf seinen Sohn Eugen Ludwig über.Karls Sohn Richard hatte im Dezember 1896 in Koblenz die von dortstammende Flora, geb. Löb, geheiratet. 1898 hatte sich sein BruderRobert in Bad Dürkheim mit Marie Luise, geb. Wolf, vermählt. Bereitsseit einiger Zeit hatten die beiden Brüder die Leitung derHerrenkleiderfabrik in der Korngasse übernommen. Ihr Vater feierte am20.07.1908 in voller Rüstigkeit seinen 70. Geburtstag im Kreise seinerFamilie, seiner zahlreichen Freunde und Bekannten, die „dem allgemeinhochgeachteten Bürger“ von Herzen gratulierten, wie die Pressemitteilte (13). Im Jahre 1909 spendete Familie EsajasKuhn und Söhne dem IsraelitischenAltersheim für die Pfalz e.V. einen namhaften Betrag (14). DieserVerein hatte die Aufgabe übernommen, ein Seniorenheim für PfälzerJuden zu errichten, weil ihre Zahl aufgrund der verstärktenAuswanderung jüngerer Jahrgänge stetig zunahm. Ein Jahr später, am31.12.1910, konnte Familie Kuhn auf ein bemerkenswertes Ereigniszurückblicken: das 50-jährige Bestehen der Kleiderfabrik. Das goldeneJubiläum wurde gebührend mit der Belegschaft und in der Familiegemeinsam gefeiert (15). Ein knappes Jahr danach, am 03.11.1911, starbdie fünffache Mutter Franziska Gudenberg, geb. Kuhn, im nahezuvollendeten 71. Lebensjahr und wurde auf dem Hauptweg des jüdischenFriedhofs bestattet. Der Schein trügt, es ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Als daspechschwarze Jahr in der Chronik der Familie und der„Herrenkleiderfabrik Karl Kuhn Söhne“ muss das Jahr 1913 bezeichnetwerden. Es begann mit dem Tode von Josefs Frau Emilia Amanda, die am21.01. im Alter von 65 Jahren verstarb. Auf der Todesanzeige stand zulesen, wie üblich beim Sterbefall eines jüdischen Mitbürgers: „VonBeileidsbesuchen und Blumenspenden bitten wir gütigst abzusehen“, daJuden auf die Gräberstätten keine Blumen legen, die ohnehin viel zuschnell verwelken. Am 10.03. erlitt die Familie Karl Kuhn denunersetzlichen Verlust ihres Oberhauptes Karl. Er verstarb nach kurzerKrankheit, umgeben von seiner Frau Eleonore, der Tochter AmaliaMathilde und den Söhnen Richard und Robert. Das war nicht nur für dieAngehörigen und Freunde, sondern ebenso für die Stadt ein herberVerlust. Im Nachruf der „Speierer Zeitung“ (16) heißt es dazu: „Infolge seiner trefflichen Charakter- und Herzenseigenschaftengenossder Verlebte allseitige Sympathien, so dass ihm ein ehrenvollesGedenken gesichert…“war. Vertraten die beiden Brüder Richard und Robert unterschiedlicheMeinungen über die Weiterführung der Fabrik? Schreckten sie vor zuhohen Risiken zurück oder war die Konkurrenz derHerrenkleiderfabrikanten Moritz Dreyfuss (17) und Wilhelm Schiff (18)mittlerweile zu stark geworden? Oder ahnten sie bereits die Gefahreines heraufziehenden Weltkrieges, wie Schriftsteller und Künstlersowie manche junge Damen, die sich schon im März 1912 für denKriegsfall als Krankenpflegerinnen ausbilden lassen wollten? (19) Wie dem auch sei, das Anwesen „Karl Kuhn Söhne, Richard und Robert“ inder Korngasse 21 wurde am 30.09.1913 durch den Geschäftsagent B.Schlamp für die Summe von 31 000 Mark ersteigert (20). So war das Endeder Herrenkleiderfabrik nach nur 53 Jahren für immer besiegelt, diemit dem Pionier Esajasso hoffnungsvoll begonnen und auch Glanzzeitenerlebt hatte. Das Jahr klang am 17.11.1913 versöhnlich aus, als Josefseinen 80. Geburtstag feierte und allen Kassandrarufen zum Trotz aufdas Weiterbestehen seiner Fabrik in der Wormser-Straße hoffte. Als der Erste Weltkrieg am 01.08.1914 ausbrach, sich unterunvorstellbaren Menschen- und Materialverlusten bis 1918 hinzog undbeklagenswerte Folgen für das Deutsche Reich brachte, fühlten sich dieBrüder Richard und Robert in ihrer gefällten Entscheidung bestätigt.Sie blieben jedoch als Geschäftsleute der Textilbranche treu. IhreSchwester Amalia Mathilde hatte im April 1894 in Speyer denWeingutbesitzer Karl Ludwig Wolff aus Bad Dürkheim geheiratet.Siebzehn Jahre später war sie Witwe geworden und starb 44-jährig, imMai 1916, in Speyer. Unaufhaltsam vergingen weitere Jahre. Am 16.03.1921 starb Karls FrauEleonore im 76. Lebensjahr, als die nationalsozialistischeSturmAbteilung zur Terrorisierung politischer Gegner erstmaligauftrat. Im folgenden Jahr, am 13.01.1922, verschied Josef im Altervon 88 Jahren als ältestes Familienmitglied. Beide wurden auf demjüdischen Friedhof in Speyer bestattet. Seine Schwester Emma schlossdie Augen für immer bei ihrer verheirateten Tochter Eugenie Mathildeam 23.12.1925, im 80. Lebensjahr, in Friedberg / Hessen (21). Wannihre Geschwister Alexander und Charlotte starben, konnte trotzintensiver Recherche nicht ermittelt werden. Eugen Ludwig betrieb die Herrenkleiderfabrik in der Wormser-Straßeweiter. Am 25.11.1919 hatte er die um elf Jahre jüngere Lucia, geb.Seligmann, aus Homburg / Saar in Speyer geheiratet. Sie wohnten inHeidelberg, wo, am 24.05.1920, ihr Sohn Werner geboren wurde. EugenLudwig verstarb am 02.04.1928 im Alter von 56 Jahren im WeinortGundelsheim = Treuchtlingen / Schwaben. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten und dem Ausbruch desZweiten Weltkriegs gab es für deutsche Juden so gut wie keine Rettungmehr. Zwar gelang es Eugen Ludwigs Sohn Werner, am 01.04.1939, in dieSchweiz zu emigrieren, aber er starb dort bereits 1943. Seine MutterLucia wurde am 22.10.1940 von der Neckarstadt Heidelberg nach Gurs,dem größten Internierungslager im Westen, deportiert und zu einemunbekannten Zeitpunkt nach dem Osten verschleppt, wo sie umkam (22).Über das weitere Schicksal von Richard Kuhn und dessen Familie liegenkeine Informationen vor. Sein Bruder Robert überlebte den Holocaustund verstarb, am 21.12.1954, in Heidelberg. Die beiden Gebäude in der Korngasse 21 und in der Wormser-Straße 24stehen noch heute da als wäre in Speyer sonst nichts geschehen. Siesind jedoch stumme Zeugen der Vergangenheit für Bürger, die sich fürihre Baugeschichte und frühere Verwendung interessieren. --------------------------------------- (1) In Hochstadt hatten sich bereits seit Ende des 17. JahrhundertsJuden niedergelassen. Die Erbauungszeit der Hochstadter Synagoge istunbekannt. Sie war ein Fachwerkbau mit einer Kellermikwe. Am09.11.1938 wurde sie zerstört und kurz danach abgerissen. Der jüdischeFriedhof ist erhalten geblieben. Vgl. „Die Synagogen in der Pfalz von1800 bis heute“ von Otmar Weber, S. 89. (2) Vgl. Buch Levitikus, Kapitel 19, Vers 19. Dieses Verbot richtetesich gegen die Magie, die gerne seltsame Mischungen benutzte. (3) Manche Juden gaben ihren Söhnen gerne den Namen Alexander, weilaus der Geschichte bekannt ist, dass Alexander der Große seinejüdischen Untertanen schätzte und ihnen besonders wohlgesonnen war. (4) Einem Mitglied der Kultusgemeinde bedeutet die Einweihung derSynagoge, dass die Gemeinde ein Haus erhält, wo sie sich zum Studiumder Tora und ihrer Kommentare, zum Gebet auf deutsch und hebräischsowie zum Gedankenaustausch versammeln kann. Sie ist ihr Mittelpunktund Bollwerk, wo sich jeder Glaubensgenosse richtig zuhause und amwohlsten fühlt. Sie ist die Säule der Gemeinde neben dem Ritualbad unddem Friedhof. Daraus geht hervor, dass die Synagoge - ähnliches giltfür die Moschee - keine „Kirche“ im herkömmlichen Sinne ist. (5) Aron Merz stammte aus Merzbach im Untermainkreis und entfalteteseine Tätigkeit als Bezirksrabbiner des Rabbinatsbezirks Frankenthalvon 1828 bis 1864. Er folgte der konservativen Richtung, war aberNeuerungen gegenüber aufgeschlossen. Nur zwei- bis dreimal im Jahr,meist im März, Juni und September, konnte er einenSchabbat-Gottesdienst in Speyer halten. Er verstarb am 31.03.1864 inBad Dürkheim und wurde auf dem Friedhof in Wachenheim bestattet. Vgl.Katrin Hopstock in „Die Juden von Speyer“, S. 152-154. (6) An sein Grabmal wurden keine Blumen gelegt, da diese der jüdischenTradition widersprechen. Juden stellen Steinchen hin als Zeichen desGedenkens. Die Sitte geht auf die Zeit zurück, als die Israeliten,nachdem sie mit Moses aus Ägypten ausgezogen waren, vierzig Jahredurch die Wüste wanderten. Die Grabstätten ihrer Toten beschwerten siemit Steinen, damit ihre Ruhe nicht durch Hyänen und Schakale gestörtwürde. - Vom israelitischen Friedhof, dem sogenannten „Judengärtel“,ist nur die kleine Trauerhalle aus roten Sandsteinquadern erhaltengeblieben als stummer Zeuge der wechselvollen Geschichte der SpeyererJuden. (7) Vgl. Kurzporträt Nr. 2. (8) Vgl. Buch Genesis, Kapitel 37, Verse 39-47.Thomas Mann verfasstein dem Jahrzehnt 1933-1943 den „Josephs-Roman“ in vier Teilen: I. DieGeschichten Jakobs, II. Der junge Joseph, III. Joseph in Ägypten undIV. Joseph der Ernährer. (9) Ferdinand Altschüler, 1840 in Speyer geboren, übernahm dasModewarengeschäft seines Vaters Isaak, das später sein Enkel Juliusbis in die NS-Zeit hinein weiterführte. Julius wanderte rechtzeitignach England aus, kehrte nach dem Krieg zurück und starb als einzigerJude der Vorkriegsgemeinde in seiner Heimatstadt im Jahre 1954. (10) Vgl. Kurzporträt Nr. 12. (11) Vgl. den Speierer Anzeiger vom 17.10.1874. (12) Vgl. Kurzporträt Nr. 10. (13) Vgl. die Speierer Zeitung vom 20.07.1908. (14) Vgl. „Erster Rechenschaftsbericht desIsraelitischen-Kreis-Asyl-Vereins für die Pfalz e.V.“, Speyer amRhein, 1909. (15) Vgl. die Speierer Zeitung vom 31.12.1910. (16) Ebenda vom 10.03.1913. (17) Vgl. Kurzporträt Nr.11. (18) Wilhelm Schiff, 1875 in Gladenbach, Kreis Biedenkopf, geboren,betrieb mit seinem jüngeren Bruder Jakob eine Kleiderfabrik in derUnteren Langgasse 5a. Er wohnte mit seiner Frau Mathilde und TochterIlse in der Mühlturm-Straße 7. (19) Vgl. „St. Vincentius-Krankenhaus Speyer“ von Karl Heinz Debusunter Mitarbeit von Doris Debus, S. 74. (20) Vgl. die Speierer Zeitung vom 01.10.1913. (21) Ob Emmas Tochter das jüdische Ritualbad in Friedberg kannte? Dieaus dem 13. Jahrhundert stammende und in gotischem Stil erbaute Anlageist besonders sehenswürdig. Es geht über fünf steile Treppen ausinsgesamt 72 Steinstufen in 25 Meter Tiefe hinunter. Die Erbauer,christliche Steinmetze, haben es dem Boden aus hartem Basaltstein inschwerster Arbeit abgerungen. (22) Vgl. die freundliche Mitteilung des Stadtarchivs Heidelberg vom03.12.2010 an den Verfasser. Bildquelle Stadtarchiv Speyer Inv. 2852, Foto heute: sim 17.08.2011 © 2014 Speyer-Kurier - Letzte Aktualisierung am 11.07.2012

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Titel Familie Michael Roch
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Hochgeladen 2017-06-06 13:56:08.0
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